Wovor erschrickt Maria? Die Verkündigungsszene im Lukasevangelium gehört zu den bekanntesten Texten unserer Bibel. Unzählige Male ist sie von Künstlern dargestellt oder verarbeitet worden. Das Fest, das sich auf diesen Text bezieht, feiern wir jedes Jahr am 25. März – 9 Monate vor Weihnachten. Und kurz vor dem Geburtsfest – heuer sehr kurz – rufen wir uns diese Verkündigung im Gottesdienst ein weiteres Mal in Erinnerung.
Und das erlaubt es uns, für einmal die großen Glaubensinhalte, die dieser Text bietet, beiseite zu lassen, und auf ein Detail zu achten: Worüber erschrickt Maria als dieser Bote – in Gestalt eines fremden Mannes – sie anspricht? Die Kirchenväter der Antike, aber auch die Theologen seit dem Mittelalter haben darauf eine eindeutige Antwort: Die junge Maria erschrickt vor der nun auftretenden Gottesmacht, die sie spürt. Es ist d.a.s. Heilige, das sie erfasst. Gestützt wird diese Annahme von der Erklärung des Evangelisten, wonach sie „überlegt was d.i.e.s.e.r. Gruß zu bedeuten“ hat. Nun ist die Feststellung (oder manchmal der Wunsch) „der Herr ist mit dir“ unter frommen Juden noch nichts Ungewöhnliches. Und ganz genau gelesen kann Maria noch nicht wissen, was die Botschaft sein wird. Wir müssen uns ihre Situation einmal vorstellen. Wir können es auch in der Basilika Frauenkirchen betrachten. Hinten an der Orgelempore ist sie noch nicht die Königin der Himmel: Sie ist eine junge Frau. Ihre Familie entstammt genauso wie jene ihres Bräutigams der weit verzweigten Sippschaft Davids. Aber das ist lange her: Maria ist nur eine noch unverheiratete Nachkommin, die abseits des großen religiösen Zentrums aufgewachsen ist und dort ein normales, ein bodenständiges Leben lebt: Nazareth liegt etwa 160 km von Jerusalem entfernt. Das entspricht in etwa der Entfernung des Franziskanerklosters in Güssing zum Stephansdom in Wien.
Maria ist nicht jemand, der gegrüßt wird. In der Antike, wenn Sie einer jungen Frau etwas mitteilen wollten, dann sagen Sie es ihr und Schluss. Nicht nur einer jungen Frau, auch sonst grüßen Sie nur sehr selten andere Menschen mit einem freudigen Hallo.
Das zeigt auch die Spiegel_Erzählung im AT unserer Verkündigungsszene: Als drei Männer oder Engel Abraham besuchen und ihm und seiner Frau Sarah einen Sohn verheißen, steht nichts von Grüßen. Abraham kennt immer schon jeden und Sarah zweifelt überhaupt an allem. Bei Maria wird das nun völlig anders: Der Engel grüßt sie, er spricht sie an. Gott zeigt sich, indem zwei Personen – Maria & Gabriel – konkret eine Beziehung zueinander aufnehmen. Das ist das Neue, das Unerwartete. Und darüber erschrickt Maria.
Aber Vorsicht: Dieser Gruß ist nicht eine billige Unterwerfungsformel wie wir sie in der Antike sonst auch finden: Jemand steht am Römischen Forum und grüßt den vorbeiziehenden Imperator mit Heil Dir, Caesar. Nein, das griechische Wort χαῖρε, das der Evangelist hier benutzt ist zugleich ein Ausdruck von Fröhlichkeit. Von Freude über die Begegnung. Der Engel Gabriel grüßt Maria, insofern er schon weiß, was jetzt geschieht: Seine Botschaft ist, dass ein Kind geboren wird, das die Menschen erlösen wird. Und die Freude darüber packt er in diesen Gruß. Maria weiß es noch nicht, aber sie spürt es schon. Sie wird so zum Urbild der Kirche, sagen die Theologen. Wir können besser sagen: Sie wird im Moment der Verkündigung zum Urbild jedes erlösten Menschen.
Dieser Gruß des Engels Gabriel – ein Detail in diesem Abschnitt – hat eine unglaubliche Wirkung entfaltet: Christen grüßen, auch wenn sie sich nicht kennen. Christlich verstanden, ist der Gruß ein minimales Glaubensbekenntnis: Ich sehe dich. Du bist erlöst. Das erfüllt mit Freude. Es gibt Gegenden, wo das Grüßen noch Brauch ist: in den Bergen, in vielen Landgemeinden. Und natürlich können wir nicht durch die Wiener Kärntnerstraße laufen und jeden Menschen grüßen. Das würde etwas skurril anmuten. Aber – und das scheint mir ein passender Auftakt für die Weihnachtstage zu sein – wir können uns daran erinnern, dass wir als gläubige Christen aufgerufen sind, an Christi Erlösungswerk mitzuarbeiten. Oder anders gesagt: Wir sollen in dem Haus, das der Herr dem David und dessen Nachkommen baut (2 Sam 7,1f), Pförtner sein. Die Fenster und Türen dieses Hauses öffnen und andere Menschen mit in diese Frohe Botschaft hineinnehmen. Erlösen tut Christus. Er ist das Licht das brennt. Aber dieses Licht weitergeben können wir: Indem wir im gegenseitigen Gruß unseren Glauben hineinpacken. Ganz diskret. Dazu braucht es keine eigenen Formeln, es reicht der einfache Gruß. Aber eben mit innerer Freude. Und auf diese Weise sollen wir den Menschen, denen wir begegnen, sozusagen zum Engel Gabriel werden: Gegrüßt seist Du [Maria, du] Begnadete. Der Herr ist mit Dir.
********
Lesungen zum 4. Adventsonntag
2 Sam 7, 1–5.8b–12.14a.16/ Röm 16, 25–27 / Lk 1,26-38