Ich habe ein Buch gekauft. Oder vielmehr: Es ist ein Heft, eines dieser blauen Reclam-Heftchen, die für den Unterricht herausgegeben werden. Man soll damit etwas lernen oder üben.
Gekauft habe ich es kurz vor dem #Lockdown in Österreich, jenem Moment, in dem sich, bedingt durch das #Coronavirus, das Leben auch in Graz vornehmlich ins Innere verlagert hat. Das Heftchen stammt aus dem Jahr 2012 und trägt die Nr. 15236 mit dem Titel „Der Essay. Texte und Materialien“.[1] „Wenn es gar nichts geworden ist, dann sag, es sei ein Essay„, hat Kurt Tucholsky 1931 geschrieben („Die Essayisten“)[2]. Der wusste also auch nicht so recht, was ein Essay ist.
Warum Schreiben
Schreiben wollte ich immer dann, wenn ich etwas zu sagen hatte. Oder etwas von dem zu erzählen meinte, was ich gehört oder erfahren hatte. Bestenfalls sollte es nicht schon wer anders geschrieben haben. Das lernt man als Journalist. In Zeiten von #Covid19 sind solche Schreib-Impulse weniger von Belang. Es gibt eine Unzahl an Nachrichtenseiten, die dieselben Zahlen immer wieder vermelden. Nur halt mit neuem Titel. Wir erleben Experten (und Expertinnen), die wissen, dass schon alles gesagt ist, nur noch nicht von jedem. Und die den #Lockdown damit bewältigen, dass sie ihren Mitmenschen gut gemeinte Ratschläge geben: zum Backen, Kochen, Haushalten, Nachdenken, Schreiben, Vordenken, Turnen, Videostreamen, Aufregen, Abregen, Coolsein, zum Wüten und zum Trösten, zum Lernen, Studieren, Lehren, Forschen, Aufdecken, Einschätzen, Berichten und Sortieren, zum Putzen und zum Totschlagen der Zeit. #Covid19 offenbart die Fähigkeit des Mitteleuropäers, immer allen alles zu sein. Nur die Stille, die hat er sich abgewöhnt.
Schreiben war immer auch ein Instrument der Verarbeitung von Dingen, die einen Autor überfordern. Kommunikation therapiert. Man muss dazu nicht eigens Franz Kafka bemühen. Dessen „Prozess“ beginnt bekanntlich mit „Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ 2020 reicht es, in München auf einer Parkbank ein Buch zu lesen, um die ganze Skurrilität hyperaktiver Schutzmänner am eigenen Leib zu erfahren.
Lucky Luke und die Creatio Continua von Bürokraten
Ein besonderes Phänomen im #Lockdown sind Politiker, Journalisten oder A-, B- und C-Promis, Leute also, deren grundsätzliche Berufung es ist, anderen Menschen die Welt zu erklären. Und denen jetzt das Publikum fehlt. Oder die die Angst umhertreibt, mit sich selbst nicht fertig zu werden.
Sie kompensieren den Ausfall mit erhöhter Aktivität im Mitteilen. Ein Haubenkoch im Stiefelstaat knallt eine Sentenz nach der anderen ins Netz, um seine Verehrung für die Hamas zum Ausdruck zu bringen. Garniert mit offen antisemitischen Auslassungen. Der Typ hat fast 180.000 Twitter-Follower. Zukunftsforscher – was auch immer deren Berufung sein soll – erzählen uns in Interviews, warum sich mit und nach der Pandemie alles ändern wird. Und vielleicht doch alles bleibt wie es ist. Pasolini docet. Hobby-Kassandren erklären derweil, welcher Skandal oder welches Skandälchen das Land für immer verändern wird. Währenddessen servieren uns die Mächtigen täglich einen neuen Strauß an Gesetzen, Regeln und Beschlüssen. Mit bedeutungsschwangerer Miene und in Italien begleitet von andauernden Neufassungen entsprechend auszufüllender Formulare. Creatio Continua ist der theologische Begriff für diesen recht diesseitigen Aktivismus der Verwaltungsgötter. Lokalpolitiker garnieren den Salat zusätzlich mit eigenen Zutaten indem sie Maßnahmen interpretieren, erweitern oder auch nur loben. Ich lebe heute zwar in einer mittelgroßen Stadt, stamme aber ursprünglich aus der Provinz. In dieser verwandeln sich derzeit reihenweise kleingemeindliche Bürgermeister in eine Art „Lucky Luke“. Sie schießen schneller ein Photo als Dein Schatten auf eine Parkbank fallen kann. Mit moralinsaurer Buß-Predigt bist Du plötzlich Teil ihres Facebook-Instagram-Newsletter-Kreuzzuges. Und ein Gezüchtigter. Die trefflichste Beschreibung der Pandemie-Zeit stammt von einem italienischen Christdemokraten. Der hat zwar auf die eigene Regierung gezielt, aber wohl universal ins Schwarze getroffen. „Das einzig gelungene Screening der Regierungsmaßnahmen ist die psychische Katalogisierung der Italiener. In diesen Wochen erkennen wir die Unverantwortlichen, die Todängstlichen, die Hypochonder, die Phobiker, die für alles Unempfindlichen“, twittert er.
Beschimpfung können aber nicht nur die Zukurz-Gekommenen. Es funktioniert auch von „oben“ nach „unten“. Die Bürger mögen sich „nicht wie Deppen oder Rechtsverdreher“ gebaren, sagt der Kommandant der Gemeindepolizei von Bozen in einem Interview. Und er klingt, wie jener zornige Alte in der „Muppet Show“, dessen Bühne die Loge und dessen Stil die Schimpftirade ist. „Pubertierende werden wohl immer dazu neigen, archaische Muster aufzurufen, wenn sie die soziale Bühne besteigen„, schreibt die Publizistin Barbara Sichtermann in meinem Reclam-Heft[3]. Covid19 ist zu einer Bühne geworden, auf der wir wochenlang Spackos sein werden.
Theologie ist Wissenschaft über sich selbst
Ein Feld, das die #Coronakrise besonders augenscheinlich umpflügt, ist die Theologie. Pastoraltheologen legen neue Blogs an, Priester und Ordensleute erklären, was der #Lockdown mit Exerzitien zu tun hat. Sowohl katholische als auch evangelische Fakultäten – so scheint es – haben die digitale Welt als neuen Locus theologicus entdeckt. Ganz ökumenisch. Alles Gesagte oder Geschriebene aber hat Adressaten, an die es gerichtet ist, sodann eine Absicht, die es verfolgt und schließlich einen Kontext, aus dem heraus es formuliert wurde. Geisteswissenschafter wissen das. Und Exegeten auch. Bei manchem schimmert deutlich durch die Zeilen, dass sein Texten das Abarbeiten einer eigenen Wunschliste ist. Man könnte ja gleich zur antiken „Hauskirche“ zurückkehren. Schreibt ein in Wien tätiger Pastoraltheologe. Seine Textabsicht ist klar: Mit #Covid19 soll die Kirche endlich zur priesterlosen Gemeinde werden. Nach nicht einmal 48 Stunden und erwartungsgemäß zahlreichen Reaktionen, rudert der Professor zurück: Alles nicht so gemeint gewesen.
Aber so blitzen tausend Brillen, so rinnt es aus tausend Exposés, tönt es aus tausend Reden, und das ist ihre Arbeit: Banalitäten aufzupusten wie Kinderballons. (Tucholsky)
Wer in eine x-beliebige Socialmedia-Plattform #DigitaleKirche eingibt, erhält eine Flut an Segenssprüchen, mutmachenden Wünschen oder ansprechenden Bibelzitaten. Theologietreibende (so die geschlechtergerechte Bezeichnung) sprechen am Häufigsten von sich selber. Was schon länger so ist, im #Lockdown offenbart es sich deutlicher. Ein südwestdeutscher Theologe, der sich selbst für maßgeblich hält, versteigt sich gar zu dem bemerkenswerten Satz: „Eine solche Epidemie wird durch die Medizin, durch medizinischen Fortschritt bekämpft, aber nicht durch ein Bittgebet.“ Was auch niemand, der bei Trost ist, je behauptet hätte. Aber der Bestseller-Theologe ist für „Großen Streit“ immer zu haben. Und so nimmt er jene Riesen halt an, die eigentlich nur Windmühlen sind. Womit er sich eine ebenso freundliche wie ernste Einladung des Wiener Erzbischofs einhandelt: Der deutsche Theologe möge doch bitte das 19. Jahrhundert hinter sich lassen. Glaube und Wissen gingen nicht gegeneinander auszuspielen. Sagt Christoph Kardinal Schönborn im Interview mit dem „Kurier“[4].
Die Textabsicht verändert unter Umständen die Aussage. Wenn der #Papst oder der Wiener Kardinal denselben Gedanken formulieren wie eine Primatenforscherin, dann verstehen die notorischen Christenskeptiker noch nicht dasselbe. Jane Goodall lässt kurz vor Ostern verlauten: „Unsere Missachtung der Natur und unsere Respektlosigkeit gegenüber den Tieren haben die Pandemie verursacht“. Über diese Kausalkette könnte man zwar noch streiten, aber im Grunde sagt die Umweltaktivistin nur, was in #QueridaAmazonia längst alle Gläubigen wissen sollten. Die eine wird wie eine Säulenheilige herumgereicht, bei den anderen orten die notablen Meinungsmacher ein „vormordernes Weltbild“. Man kann Tucholsky durchaus prophetische Begabung zuschreiben: Es geht darum, „Banalitäten aufzupusten wie die Kinderballons„. Schrieb er 1931[5].
#bleibtZuhause und #SeiRuhig
Wer gemeint hat, er versäume mit den Pandemie-Maßnahmen das halbe Leben, hat sich geirrt. Vor lauter Informationen, die wir haben sollten und solchen, die uns nur noch mehr verrückt machen, dreht uns auch im #Lockdown der Kopf. Home-Working, Home-Schooling, Home-Training, Home-Lessons, Home-Concert: Auch #bleibtZuhause oder #StayHome vermögen keine Entschleunigung. Die Welt hat sich schon viel zu weit entwickelt, als dass uns eine Pandemie zur Trautsamkeit eines bukolischen Landhauses verdonnern würde. Was für Boccaccio (Il Decamerone) gut war, ist für uns ein Märchen. „Nicht der Mangel, sondern der Überfluss an Informationen wird zu einem der größten Probleme der westlichen Zivilisation„[6], hat der Schriftsteller Friedrich Christian Delius vorhergesagt. Das war im Jahr 2001. Da gab es noch keine Smartphones oder Tablets.
Es ist eine Stille entstanden, ein Hinhören der Herzen, welches die wahrhaftigen Stimmen von den falschen Stimmen unterscheidet, die wahren Lichter von den künstlichen Lichtern. (Lepori)
In der aufkommenden technologischen Revolution sah Delius damals die Notwendigkeit zum „Informationsmanagement“. Das sich ein jeder anzueignen habe: „Die Fähigkeit zur Auswahl ist ein entscheidendes Kriterium für Bildung[7]„, meinte er. Das ist heute eine Binsenweisheit. Die Frage ist, wie sich Menschen diese Fähigkeit aneignen sollen. Der Trick liegt vermutlich darin, vom Mitteilen zum Hören umzuschalten.
„Nur in der Stille ertönen die seltenen Stimmen, die einem Herzen die Wahrheit zuflüstern“, sagt der Generalabt der Zisterzienser, Mauro Giuseppe Lepori, in einem langen Gespräch mit der italienischen Tageszeitung „Il Foglio“[8]. Lepori verweist auf den Papst, der vor dem leeren Petersplatz steht. Auf die vielen Kirchen, die jetzt leer bleiben: „Es ist eine Stille entstanden, ein Hinhören der Herzen, welches die wahrhaftigen Stimmen von den falschen Stimmen unterscheidet, die wahren Lichter von den künstlichen Lichtern.“ Für mich der beste Gedanke, den ich während der Pandemie bisher gelesen habe. Einer jener Sätze, für die ich ein Buch gekauft hätte.
[1] Kellermann, Ralf: Der Essay. Texte und Materialien, Reclam 2012, Kurz: Reclam 15236
[2] Reclam 15236, S. 75
[3] Reclam 15236, S. 28
[4] Tageszeitung „Kurier“, 10. April 2020, S. 4-5
[5] Reclam 15236, S. 73
[6] Reclam 15236, S. 60
[7] Reclam 15236, S. 61
[8] Tageszeitung „Il Foglio“, Ausgabe Nr. 87, 11./12. April 2020 (Jg XXV), Seite I