Vernunft und mehr
Die katholische Kirche hat am 21. April des Benediktinermönchs und Philosophen Anselm von Canterbury (1033-1109) gedacht. Heute kennt ihn nur mehr ein überschaubarer Kreis von Theologen oder kirchlichen Insidern. Dabei prägte sein Denken über Jahrhunderte hinweg nicht nur die Theologie,
Die katholische Kirche hat am 21. April des Benediktinermönchs und Philosophen Anselm von Canterbury (1033-1109) gedacht. Heute kennt ihn nur mehr ein überschaubarer Kreis von Theologen oder kirchlichen Insidern. Dabei prägte sein Denken über Jahrhunderte hinweg nicht nur die Theologie, sondern auch viele Generationen an weltlichen Philosophen. Wie kaum ein anderer steht Anselm für das Zueinander von Glaube und Vernunft. Mindestens in zweifacher Hinsicht ist der „Vater der Scholastik“, wie ihn der Dogmengeschichtler Martin Grabmann genannt hat[1], von besonderer Aktualität.
Was wir heute brauchen könnten
Die Methode. Zu den in der mittelalterlichen Scholastik üblichen Debatten gehörte eine dialektische Argumentationsstruktur. Vor jeder eigenen Schlussfolgerung führte man ein Gegenargument an, das man zu widerlegen gedachte. Die Folge war eine irgendwann unübersehbare und oft sehr sperrig daher kommende Abfolge von Satzkonstrukten, sodass diese Art der inhaltlichen Auseinandersetzung irgendwann verschwand. Heutzutage ist die Ausgangslage indes umgekehrt: Da zählt mehr das Appellieren an jene, die eh derselben Meinung sind. Wären wir gezwungen, etwaige Gegenargumente in die eigenen Überlegungen zu formulieren, wäre mancher Shitstorm ein differenziertes Auseinandersetzen.
Aber Anselm, der nach seiner Ernennung zum Erzbischof von Canterbury, in einen Investiturstreit mit dem englischen König Wilhelm II. („Rufus“) geraten war, geht noch einen Schritt weiter: Weil sein ontologischer Gottesbeweis auch unter Fachkollegen Widerspruch ausgelöst hatte, ergänzt er sein „Proslogion“. Und nimmt dabei Bezug auf die Einwände seines größten Kritikers, des Gaunilo von Marmoutiers. Spätere Ausgaben des Proslogion bringen die Kontroverse der beiden Mönch-Theologen zusammen. Vielleicht schaffen wir es zeitgenössische TheologInnen ja auch irgendwann einmal, im akademischen Eifer, beispielsweise, um kirchliche Ämter auf die Argumente von „Ordinatio Sacerdotalis“[2] einzugehen. Bis dahin bleibt Anselm unerreichter Champion fruchtbringender Auseinandersetzung.
Die Grenzen der Ratio
Beziehung ist Denken und Spüren. Die europäische Kulturgeschichte verortet die Wende, in welcher der Mensch sich selbst in sein Denken stellt, in die Renaissance. Tatsächlich aber gewinnt das „Subjekt“ bereits in den Überlegungen der Scholastiker an Bedeutung. Anselm wollte mit den Mitteln der Vernunft die Existenz Gottes beweisen. Und zwar so, dass dies auch für Nichtglaubende nachvollziehbar erscheint. Sein Glaube sollte etwas sein, das der Vernunft nicht nur nicht im Weg steht, sondern dieser auch entspricht: Seine „fides quaerens intellectum“, sein „Glaube, der nach Einsicht fragt“ führt Anselm schließlich zu der berühmten Aussage im Gottesbeweis: Gott ist das, worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann. Doch mitten in der Argumentationskette findet sich plötzlich ein Bruch: Im 14. Kapitel formuliert Anselm eine Art Gebet, eine direkte Rede, in der sich der Denker fragend an die eigene Seele wendet:
Hast du, meine Seele, gefunden, was Du suchtest?
Du suchtest Gott und hast gefunden:
er ist ein Allerhöchstes – nichts Besseres als ihn kann man sich denken;
und dies ist das Leben selber, das Licht, die Weisheit, die Güte,
die ewige Seligkeit und selige Ewigkeit;
und das ist allerorts und allezeit.
Denn wenn du deinen Gott nicht gefunden hast:
wieso ist er das, was du gefunden hast
und als was du ihn mit so sicherer Wahrheit und wahrer Sicherheit erkannt hast?
Hast du aber gefunden:
wie kommt es, daß du nicht fühlst, was du gefunden hast?[3]
Was ihm spätere Philosophen als Schwäche auslegen, nämlich, dass Anselm nicht durchgehend logisch oder vernünftig argumentiert, erscheint vielmehr der eigentliche Kern seines „Beweises“: G’tt kann man zwar denken, aber irgendwann kommt die Nagelprobe: Irgendwann muss er spürbar sein. Sonst ist er nicht.
In diesem Seelen-Dialog offenbart sich eine regelrechte Krise des denkenden Theologen. Der Zweifel ist zwar in jedem Denkprozess Triebfeder der intellektuellen Reflexion, kaum aber wird er irgendwo so existentiell, wie bei Anselm. „Alle Werke Anselms kennen einen kritischen Punkt, einen Moment der Krise und einen Wendepunkt, einen heiklen und starken Übergang auf der reflexiv-transzendentalen und der affektiv-dramatischen Ebene, in welcher sich alle Koordinaten des Gedankenganges zuspitzen und sich verschärfen, sich die Aporien des zurückgelegten Wegs entpuppen und ein Perspektivenwechsel erfordert wird“[4], stellt der Anselm-Experte P. Elmar Salman OSB fest.
Aus der Krise in das Bewusst-Sein
Hierin wird Anselm beeindruckend aktuell: Der Scholastiker macht aus der Gottesfrage eine Frage nach dem Subjekt. Und das Subjekt ist dabei auch ein fühlendes. Bedingt das nach Gott suchende Subjekt aber sowohl eine reflexive als auch eine affektive Ebene, dann entsteht ein subjektives Selbstbewusstsein des Ich. Wobei bei Anselm immer klar bleibt, dass das subjektive Bewusstsein nie von einer objektiven Wahrheit abzusehen vermag.
Mehr als akademische Vernunft: Sich aussetzen
Nach dem Religionskritiker Ludwig Feuerbach ist das Nachdenken über Gottesbildern in Misskredit geraten. Zu schlagend erschien sein Urteil, wonach die Frage nach G’tt in nichts anderes als in eine menschliche Projektion führen könne. In jüngerer Zeit der Postmoderne beschäftigt sich die Theologie wieder vereinzelt damit. Allerdings konzentrieren sich die Debatten hauptsächlich auf das Auffinden und Dekonstruieren angeblich „falscher Gottesbilder“. Mutig hingegen wäre es, sich selbst, sein eigenes Ich, dem Zweifel auszusetzen. Und dann erst nach G’tt zu fragen. Eine solche Theologie braucht und leistet mehr als akademische Vernunft allein.
[1] Grabmann, Martin: Geschichte der scholastischen Methode, Bd. 1, Berlin 1956, 258-340.
[2] Johannes Paul II.: Ordinatio Sacerdotalis, Apostolisches Schreiben über die nur Männern vorbehaltene Priesterweihe vom 22. Mai 1994
[3] Anselm von Canterbury, Proslogion XIV
[4] Salmann, Elmar: La svolta come processo e perno del pensiero, in: Simón, Alfredo (Hg): Conoscenza ed affectus in Anselmo d’Aosta, Rom 2014, 207.