Zwei, die hinsichtlich Jahrhundert und je eigener Lebensgestaltung nicht weiter voneinander entfernt sein könnten, finden zueinander. Kalenderbedingt. Der franziskanische Eigenkalender legt für den 21. April den Gedenktag des heiligen Kapuzinerbruders, Konrad von Parzham (1818-1894), fest. Der Bauernsohn aus der Nähe von Passau war über 40 Jahre lang umtriebiger Pförtner des Kapuzinerklosters in Altötting. Wegen seines Gebetseifers und der aufopfernden Dienstbereitschaft für Arme und Wallfahrer verehrten ihn bereits seine Zeitgenossen als heiligmäßigen Mann, zu dem jeder mit seinen kleineren und größeren Anliegen kommen konnte. Ein Volksheiliger par excellence: Vom Typ ganz anders als der mittelalterliche Benediktiner-Theologe Anselm von Canterbury (1033-1109).

 

Die Ordnung im Stundengebet legt nahe, sich für einen der beiden zu entscheiden, d.h. für Franziskaner gibt es eigentlich keine Wahlfreiheit: Der Gedenktag des berühmten Kapuziners ist im seraphischen Eigenkalender[1] ein vorgeschriebener. Für Anselm bleibt da allenfalls Zeit für eine erinnernde „Erwähnung“, für eine „commemoratio“[2]. Wer in der Lesehore die jeweiligen hagiographischen Lesungen der beiden Gedenktage nebeneinander legt und vergleicht, der stellt eine erstaunliche Ähnlichkeit fest. Konrad und Anselm mögen in unterschiedlichen Jahrhunderten völlig unterschiedliche Menschen gewesen sein, inhaltlich finden sie im Evangelium zu denselben Schwerpunkten. Im Prinzip lebt Konrad, was Anselm beschreibt. Oder anders formuliert: Im Grunde hatte der Bischof von Canterbury schon erfahren, was der Pförtner von Altötting dann auch erzählt. Es ist übrigens eher auszuschließen, dass der Kapuzinerbruder den fast 800 Jahre älteren Benediktiner-Bischof selbst gelesen hat, und eventuell abgekupfert hat.

 

 

Die Anselm-Lesung bietet einen Text, der aus Ausschnitten unterschiedlicher Kapitel des Proslogion besteht. In diesem Werk führte Anselm im 11. Jahrhundert seinen „Ontologischen Gottesbeweis“, jene vielfach zitierte Argumentation, mit der die Existenz Gottes auch Nichtchristen gegenüber bewiesen werden sollte. Die Abschnitte stammen aus dem XIV. (Entdeckung des unerreichbaren Lichtes), dem XVI. (Anerkennung des unerreichbaren Lichtes) und dem XXVI. (Gebet, um in die vollkommene Freude Gottes zu gelangen) Kapitel. Der Argumentationsstil entspricht der Sprache der Scholastiker: ein bisweilen trockenes Unterscheiden von Begriffen. „Clare et distincte“ (Klar und unterschieden) nannte Descartes diese Art der Wissenschaftlichkeit. Canterburys Grundaussage: Der Philosoph (Anselm schreibt in der Ich-Form) möchte Gott erkennen, ihn lieben und sich an ihm erfreuen.

 

 

Anders stellt sich der Konrad-Text dar: Es ist ein Brief, in dem der Kapuziner-Bruder von seiner Berufung erzählt. Im Rückgriff auf eine betont einfache Erläuterung, bei der sich Konrad auch nicht scheut, kindlich zu erscheinen, streicht der Ordensmann hervor, dass er nun glücklich und zufrieden ist. Als Leser soll man den Eindruck haben: Da ist ein Mensch, der seine Bestimmung gefunden hat. Und zwar indem er auf den zuerst von Gott ausgegangenen Ruf geantwortet hat.

Beiden Texten gemeinsam ist zunächst, dass die zwei Autoren von ihrer Suche erzählen. Konrad beschreibt ein „Staunen“, aber auch die Klagen und Bitten, die er an Gott richtet. Seine eigenen und die jener anderer Menschen. Weiß er weder ein noch aus, richtet er die Frage an seinen Herrn: Das Kreuz Christi ist sein „Buch. Nur ein Blick auf ein Kreuz lehrt mich in jeder Gelegenheit, wie ich mich zu verhalten habe.“ Anselm formuliert in Kategorien der Philosophie: Im Proslogion ist die „verlangende Seele“ jene Triebfeder, die Gott sucht, die ihn erkennen will. Gott selbst ist die alles übersteigende und auch vom menschlichen Auge nicht wahrnehmbare Wirklichkeit. Allerdings ist Gott eine Wahrheit, von der Anselm erwartet, dass sie ihn selig macht. Eine Wahrheit, die stets „fern von mir [ist], obwohl ich doch so nahe bei Dir bin.“ Beide beschreiben sich als Geschöpfe, die auf dem Weg sind. Beide beschreiben Bewegung, nicht eine statische „Visio beatifica“.

 

Die Unzulänglichkeit des Menschen

Beiden Heiligen gemein ist die grundsätzliche Überzeugung der eigenen Unzulänglichkeit. Anselm umschreibt das als grundsätzliche Unfähigkeit: Er kann Gott nicht sehen, weil dieser zu hell und das eigene Auge zu krank ist. Seine Vernunft ist ohnmächtig, weil sie Gott nicht erfassen kann. Und sein Leben wird bestenfalls ausreichen, um am Ende die Freude an Gott nur fast zu erreichen. Und das auch nur, wenn er täglich auf dem eingeschlagenen Weg fortschreitet. Konrad muss das, was wir heute „Kontingenz des Menschen“ nennen, also die eigene Unzulänglichkeit, nicht eigens formulieren. Der Kapuzinerbruder weiß von der eigenen Beschränktheit. Er führt aber aus, wie er damit umgeht: Demut, Sanftmut und Geduld. Was auf den ersten Blick wie ein Versatzstück aus franziskanischen Handbüchern klingt, ist in Wirklichkeit ein hartes Stück Arbeit an sich selbst: Zwischen quengelnden Besuchern und nicht immer zustimmenden Mitbrüdern ist Geduld das, was einem meistens dann fehlt, wenn man es am meisten brauchen würde.

 

In beeindruckender Übereinstimmung formulieren beide Heilige dasselbe Ziel: die Liebe. „Ich bin bemüht, ihn recht zu lieben“, schreibt Konrad in dem Brief. Gemeint ist Gott. Ein „Seraph in der Liebe“ möchte er sein, am liebsten hätte er, wenn alle Geschöpfe ihm dabei helfen würden. Das ist sein eigentliches Ziel im Leben, denn die Liebe zu Gott – darin ist sich Konrad ziemlich sicher – macht ihn glücklich. Fast identisch hatte das Anselm formuliert. Im XVI. Kapitel des Proslogion: „Mein Gott, ich bete: ich möchte dich erkennen, dich lieben und an Dir mich freuen“. Beten heißt also Gott lieben. Und das bringt Freude. Eine existentielle Freude. Ein Vollendet-, ein Angekommen sein. Nur wenn seine Liebe zu Gott im irdischen Dasein ständig zunimmt, werden das Erkennen und die Freude im Jenseits vollkommen sein.

 

Fazit: Zwei Arten, ein Glaube

Fazit: Bisweilen ist heute noch zu lesen, dass sich spekulative oder akademische Theologie und gefestigte Volksfrömmigkeit einander ausschließen. Es gibt Theologen, denen sind die meisten Arten von Frömmigkeit verdächtig. „Frömmeln“ ist fast immer pejorativ gemeint. Umgekehrt misstrauen Gläubige den Absichten der akademischen Theologie. Zu wenig Glaube wird den Theologen unterstellt. Manchmal sogar eine Art Verrat an der Frohen Botschaft. Allein schon die Ordensgeschichte der Franziskaner ist von Beginn an von solchen Spannungen gezeichnet. Franz von Assisi hat das vorausgesehen und gespürt. Als er seraphische Ordensgründer seinem Mitbruder, dem [heiligen] Antonius von Padua, anträgt, die Brüder in Theologie auszubilden, will er vorab schon diesen Gegensatz entschärfen. „Es gefällt mir, dass du den Brüdern die heilige Theologie vorträgst, wenn du nur nicht durch dieses Studium den Geist des Gebetes und der Hingabe auslöschst, wie es in der Regel steht“, schreibt Franziskus an Antonius. Er will nicht, dass die Brüder aus Unbildung eine Tugend machen. Gleichwohl fordert er, dass man Theologie nicht um ihrer selbst willen studiert.

Dass dies möglich ist, und dass im Grunde die eine wie andere Seite dasselbe denken und leben können, es nur anders ausdrücken, das sieht man an dem Duo Anselm von Canterbury und Konrad von Parzham. Die sich nicht nur den Gedenktag, sondern augenscheinlich auch dieselbe Botschaft teilen.

 

 

 

[1] Das Adjektiv „seraphisch“ gilt dem Ordensgründer Franz von Assisi oder für seinem Orden. Die leidenschaftliche Hingabe des Franz von Assisi ähnelt gemäß Überlieferung dem Brennen eines Seraphen.

[2] Allgemeine Einführung in das Stundengebet, 239.

Author

windl@turmderwinde.eu

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert