
Erinnerung an Andere
Der chilenische Nobelpreisträger Pablo Neruda überschrieb seine Autobiographie mit dem Titel „Ich bekenne, ich habe gelebt“.
Was ein Gedanke ist, der jedem Menschen zu wünschen ist: dass er am Ende zu einem solchen Bekenntnis bewussten Lebens findet.
Der Kreuzgang der Franziskaner in Graz ist ein Ort solcher Bekenntnisse. Einerlei, ob Mann oder Frau, reich oder arm, durchschnittlich oder berühmt: Zahlreiche Tafeln erzählen von Menschenleben, deren letzter Rest heute oft nur mehr diese Tafel ist. Er oder sie hat gelebt. Seit fast 800 Jahren leben Franziskaner hier, fast ebenso lange finden im Kreuzhof, in unterschiedlichen Gruftanlagen oder um die Kirche herum Menschen ihre letzte Ruhestätte. Im Tod sind alle gleich: Und so hängt die Tafel der „Hochgeborenen Frau, Frau Charlota Antonia Gräfin von Schrottenbach“ gleich neben jener der „ehrsamen Tafeldeckerin Elisabeht Anger“. Die Epitaphe erzählen vom Leben: Hofmitarbeiter, Physiker, Apothekersgattin, Maler. Auch ein Egidius, „des Herren Christian Khann ehelich erzeugtes Sohnlein“ liegt hier begraben. Trotz augenscheinlich kurzer Lebensspanne war es der Familie offenbar wichtig, den Buben über den Tod hinaus in die Familie einzuordnen.
Nach allgemeiner Auffassung befindet sich ein unbestatteter Toter bzw. ein unbestatteter Leichnam in einem unbefriedigenden Zwischenstadium. Irgendetwas muss mit ihm geschehen, um der Pietät und der Tradition Genüge zu tun. Die Bestattung ist eine religiöse Pflicht, die auch gegenüber Fremden oder Gegnern gilt. Das beschreiben auch unsere Heiligen Schriften. Umgekehrt ist es eine besondere Form der Bestrafung, die angemessene Bestattung zu verweigern. Im Jahr 1471 wurde der Schädel (ohne Torso) des als Hochverräter enthauptetem Ritters Andreas Greissenecker unter der Schwelle der Jakobi-Kapelle verscharrt. Eine verheerende Symbolkraft: Die Menschen sollten symbolisch und unwissentlich auf sein Haupt treten, auch wenn Greissenecker und sein Ende längst vergessen waren. Bei Renovierungsarbeiten im Jahr 1987 fanden Arbeiter den Schädel. Worauf dieser pietätvoll in einer Mauernische am Portal beigesetzt wurde.
Das Wissen darum, dass der eigene Tod unausweichlich ist, hat die Vorstellungskraft der Menschen zu allen Zeiten angespornt: Sehr kunstvoll sind einige Epitaphe ausgearbeitet. Hinterbliebene oder manchmal auch der Bestattete selbst haben sich das Andenken etwas kosten lassen. Was werden sich die Menschen gedacht haben, als es dann wirklich so weit war? Was haben sie wohl empfunden? Beim Durchlaufen werden die steinernen Bekenntnisse auf diese Weise zur Einladung an die Lebenden nachzudenken. Nicht zu oft, aber immer wieder zwischendurch. Über Leben und Tod nachzudenken, ist nämlich etwas anderes als den eigenen zu erleben: Memento mori – Bedenke, dass (auch) Du stirbst.
Herausforderung an uns
Ein Friedhof oder eine Grabanlage wie bei den Franziskanern in Graz ist nicht nur ein Ort für Tote. Das ist nicht nur ein Ort der Erinnerung. Sondern auch eine Herausforderung an die Lebenden. Sie bilden sozusagen die zweite Dimension des Friedhofes. Durch den Besucher wird dieser Ort zu einem Raum. Selbst dann, wenn wir die Bestatteten nicht mehr persönlich kennen. Das ruhige Durchschreiten ruft ein Nachdenken hervor. Ein Nachdenken über uns selbst, über diese Welt, über das Leben.
„Was Ihr seid, waren wir einst – Was wir sind, das werdet Ihr sein“. Steht über dem Ossarium in der Gruft unter der Kirche. Die geschichteten Schädel wurden bei der Öffnung der Gruft nach der Jahrtausendwende gefunden. Im Jahr 1782 musste auch diese Gruftanlage auf Anordnung von Joseph II. geschlossen werden. Erst mit den Renovierungsarbeiten wurde sie abgesichert und wieder zugänglich gemacht. Die in Graz lebenden Franziskaner werden bis heute auf dem Stadtfriedhof St. Peter begraben.
Immerhin finden sich am Eingang der Gruftanlage Tafeln, auf denen die Namen der Franziskanerbrüder verzeichnet sind. Regelmäßige Besucher oder gute Freunde des Klosters erinnern sich an den einen oder anderen Franziskaner wie Br. Bernhard Sagl oder Br. Didacus Sudy. Im Vorübergehen kommt ein Gedanke auf, eine Erinnerung. Es ist ein Stück eigener Geschichte. An einer besonderen Stelle vermerkt sind die Namen von P. Kapistran Pieller und Angelus Steinwender: Die beiden Brüder wurden während des Zweiten Weltkrieges wegen ihrer antifaschistischen Haltung gefangen genommen und wenige Tage vor Kriegsende, am 15. April 1945, in Stein an der Donau erschossen.
Einmal jährlich, am Allerseelentag, pilgert die Kloster- und Kirchengemeinschaft an den Grufteingang. Erinnerung an Andere ist Hoffnung für uns selbst.
Ein Ort des Lebens
Eine Grabanlage bietet aber nicht nur einen Dialog zwischen den Besuchern und den Verstorbenen, zwischen unserem Leben und der Geschichte. Auf Friedhöfen lebt und gedeiht die ganze Schöpfung: Pflanzen sprießen, Bäume spenden Schatten, Vögel singen. Im Untergrund wühlen sich Käfer und Getier durch die gesegnete Erde. Auch das Franziskanerkloster ist so ein Biotop, ein Ort des Lebens. Eingefriedet zwischen den Klostermauern ist der Kreuzgang ein Geheimtipp für Menschen, die dem regen Treiben der zweitgrößten Stadt Österreichs kurz entfliehen wollen.
Sprachlich leitet sich der Ausdruck „Friedhof“ von der Bezeichnung „eingefriedetes Grundstück“ ab, ein Vor- oder Innenhof also. Erst später wird daraus der Friede abgeleitet. Einen umfassenden Frieden zu suchen, ihn zu finden und dann stückweise zu kosten, das ist Glückseligkeit für einen Menschen. Nicht so sehr für die Menschheit im Allgemeinen, sondern für jeden Einzelnen von uns. In seinem je eigenen Bedürfnis. Dabei hilft uns eine Anlage wie im Franziskanerkloster mit ihren Epitaphen, der Gruft, dem ruhigen Raum, den Pflanzen und Tieren: „Heutzutage“ – so schreibt der Theologe Georg Schwikart – „beklagen wir den übersteigerten Drang nach Individualität, der Friedhofssatzung sei Dank, dass wir am Ende hübsch in Reih und Glied liegen“. Dass es auch anders geht, dass die Menschen im Tod zwar gleich, aber nicht anonyme Masse sind, wird hier zu bestaunenswerter Wirklichkeit. „Ich bekenne, ich habe gelebt“, erzählen hier die Toten. „Danke, Gott, dass Du mir mein Leben geschenkt hast“, möchten wir antworten.