Es findet eine auffällig ruhige Debatte in Österreich statt, seit das Verfassungsgericht im Dezember 2020 das bis dahin geltende Verbot zur Beihilfe zum Suizid gekippt hat. Die Folge: Die Politik ist seit Jahresbeginn angehalten, ein entsprechendes Gesetz neu zu formulieren. Und zwar für ein Themenfeld, das viele Menschen in existentieller Hinsicht betrifft. Umso unverständlicher ist es, dass die Debatte kaum stattfindet. Und dass auch Entwicklungen anderer Länder kaum Widerhall in Österreich finden. So wie der Fall eines zweijährigen Mädchens in Manchester. Welcher die gesetzgeberische Verbissenheit als widersprüchlich entlarvt.
Nur in einem einig: Mehr Diskussion notwendig
Am Tag der Urteilsverkündung in Österreich gab es Reaktionen. Erzbischof Franz Lackner – nicht nur Vorsitzender der Bischöfe, sondern auch der ausgebildete Philosoph unter den heimischen Hirten – legte die Hand in die (rechtsphilosophische) Wunde: „Jeder Mensch in Österreich konnte bislang davon ausgehen, dass sein Leben als bedingungslos wertvoll erachtet wird – bis zu seinem natürlichen Tod. Diesem Konsens hat das Höchstgericht mit seiner Entscheidung eine wesentliche Grundlage entzogen. Es verlangt nunmehr von der Rechtsordnung, Situationen zu nennen, in denen nicht nur akzeptiert werden soll, wenn sich jemand das Leben nimmt, sondern in denen er noch dazu dabei unterstützt werden soll.„[1] Auch die Novellierung des Gesetzes müsse dem Grundkonsens Rechnung tragen, wonach jeder Mensch wissen soll, „dass sein Leben für uns wertvoll ist.„[2] Auf der anderen Seite beeilte sich der Bioethiker Ulrich Körtner, Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin an der Universität Wien, festzustellen, dass das Urteil das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen stärke: „Das Recht auf Leben bedeutet keine Pflicht zum Leben, wie schon das Instrument der Patientenverfügung zeigt, mit der ein Patient lebenserhaltende Maßnahmen ablehnen kann„[3], sagte Körtner. Er hoffte auf eine breite Debatte: „Es wird auch darüber zu diskutieren sein, welche flankierenden Maßnahmen zum Schutz besonders vulnerabler Menschen vor familiärem und gesellschaftlichem Druck auch jenseits gesetzlicher Bestimmungen zu ergreifen und auszubauen sind.“[4]
Besser wäre heftiger Widerstreit
Allein Verfassungsministerin Karoline Edtstadler meldet sich von Zeit zu Zeit und steckt für die Koalitionspartei ÖVP die Roten Linien ab: Sie will keine Kommerzialisierung der Sterbehilfe und ist für ein Werbeverbot. Im grün geführten Justizministerium arbeitet man offenbar an einer Vorlage. Wie diese aussehen könnte, lässt sich Justizministerin Alma Zadic auch im Juli nicht entlocken. Dabei wäre etwas mehr Diskussion oder auch (argumentativer) Streit ausdrücklich nicht nur ein parlamentarischer Mehrwert: Wie auch immer das Gesetz ausschauen wird, es wird Grauzonen geben (Wer darf was genau und unter welchen Umständen?). Was viele Betroffene verunsichern wird. Außerdem werden sich Menschen plötzlich mit ureigentümlichen Ängsten konfrontiert sehen; und zwar ausgerechnet dann, wenn sie nicht mehr Zeit haben, sich darüber Gedanken zu machen (Muss ich nach einem Unfall bis zum Nimmerleinstag dahinvegetieren? Oder: Entscheidet am Ende irgendwer anders darüber, ob ich sterben muss?). Es wird sich Unsicherheit breit machen (Wer kennt eigentlich den Unterschied zwischen „Indirekter“ und „Passiver“ Sterbehilfe?). Die Qualität der Gesetzesnovelle wird auch davon abhängen, wie viele Menschen einigermaßen verstanden haben werden, was da beschlossen wird. Und welche Auswirkungen das neue Gesetz mit sich bringt.
Freier Wille ist schnell gesagt
Etwa zeitgleich mit dem Beginn der Novellierung in Österreich veröffentlichte der deutsche Jurist und Schriftsteller Ferdinand von Schirach sein Bühnenstück „Gott“.[5] Das Stück stellt eine fiktive Diskussion vor dem Deutschen Ethikrat dar, bei der es um die Annahme geht, dass ein 78-Jähriger sein Leben beenden und dafür die Hilfe seiner Hausärztin in Anspruch nehmen möchte. Am Ende der Darbietung stimmen die Zuschauer des Bühnenstückes ab: Was soll erlaubt sein? Die Bedeutung des Stückes bedürfte einer eigenen Reflexion, nur zwei Beobachtungen dazu: Von Schirach gelingt, was ihm immer gelingt, nämlich eine konzise Beschreibung menschlicher Abgründe oder Ängste. Jeder, der einmal eine Diskussion über Sterbehilfe o.ä. geführt hat, weiß, dass solche Debatten genauso ablaufen wie in diesem Stück. Und zweitens: Wird die Frage in der Perspektive des freien Willens gestellt, ist das Ergebnis vorhersehbar. Bei der Ausstrahlung der Aufführung stimmte sowohl in Deutschland als auch in Österreich eine große Mehrheit für das Anliegen des 78-jährigen Richard Gärtner. Auch sehr viele gläubige Menschen sind der Ansicht: ‚Wenn wer nicht mehr will, soll man ihn lassen.‘ Der freie Wille des Menschen ist das hauptsächliche und auch das stärkste Argument der Befürworter. Daran ändert auch nichts, dass Von Schirach in seinem fiktiven Dialog genau hier den Anwalt von Richard Gärtner sprachlos sein lässt. Das einzige Mal, übrigens. Wollen wir einer 31-Jährigen, die aus Schuldgefühlen nicht mehr weiterleben will, nachdem sie Jahre zuvor ein Kind überfahren hat, wirklich ein tödliches Medikament in die Hand geben? Der freie Wille ist nicht etwas Abstraktes, das absolut zu setzen geht, wie G. W. F. Hegel einst ausführte. Freiheit ist ihm zufolge intersubjektiv. Was so viel bedeutet, als dass Freiheit überhaupt nur sein kann, insofern es eine Beziehung unter Subjekten gibt. Hatte Hegel Recht, und ließen wir die Frau ihr Leben beenden, hätte das nichts mit ihrem freien Willen zu tun. Wir würden sie schlicht allein lassen. Mit ihrem Leid.
Welcher Wille?
Dass das mit dem „Freien Willen“ nicht so eindeutig ist, wie die Sterbehilfe-Proponenten gerne darstellen, wissen nicht nur Psychologen und Juristen. Die Frage ist von existentieller Relevanz im Alltag geworden, aber sie ist auch ein Dauerbrenner der Philosophie. „Wir denken nicht eher an das, was wir wollen, als in dem Augenblicke, da wir es wollen; und verändern uns wie jenes, das die Farbe des Ortes annimmt, an welchen man es bringt. Wir ändern den einmal gefassten Vorsatz gar bald und kehren bald wieder um„, beobachtete einst Michel de Montaigne (1533-1592).[6] Schon klar, dass ein Rechtsstaat mit belastbaren Dokumenten arbeiten muss, aber schlafen wir ruhig in dem Zweifel, ob ein Sterbewilliger nur den bürokratischen Rückweg nicht mehr gefunden hat, jetzt tot ist, und eigentlich gar nicht sterben w.o.l.l.t.e.?
Teil II von 2 folgt hier.
[1] Erzbischof Franz Lackner am 11.12.2020 zum VfGH-Urteil zur Suizidbeihilfe, abgerufen am 28.7.2021: https://www.bischofskonferenz.at/erklaerung/lackner-zum-vfgh-urteil-zur-suizidbeihilfe-diese-entscheidung-kann-kirche-nicht-mitvollziehen
[2] Ebd.
[3] Prof. Ulrich Körtner am 11.12.2020 zum VfGH-Urteil zur Suizidbeihilfe, abgerufen am 28.7.2021: https://science.orf.at/stories/3203509/
[4] Ebd.
[5] Schirach von, Ferdinand: Gott. Ein Theaterstück, München 2020.
[6] Montaigne de, Michel: Von der Unbeständigkeit unserer Handlungen, in Ders.: Essais. Mit einer Einführung von Henning Ritter und begleitenden Texten, Frankfurt am Main, März 2016, S. 96.