Eine Beobachtung der zeitgenössischen Diskussionskultur.

Eine Notwendigkeit des zeitgenössischen Schreibens und der Wissenschaften generell ist es in einem bestehenden Raster zuordenbar zu sein. Dies ist dabei beileibe nichts Schlechtes, sondern ungemein hilfreich um einen Überblick zu erhalten, Ordnung zu bewahren und auch verwandte Fragestellungen zu finden. Wie ordnet man sich aber in dieses Raster, dieses System ein? Vorweg, es gibt nicht ein System schlechthin und auch nicht ein Ordnungssystem. Im wissenschaftlichen Kontext verzweigt sich jede Disziplin, nach den ihr eigenen Maßgaben, welche als je sinnvoll erachtet wurden in Unterdisziplinen, Forschungsgebiete, Spezialfragen und so fort. Literarisch versucht man mit Zeitzuordnungen, Gattungsbegriffen, Autorenphasen und dergleichen mehr eine Ordnung in das beinahe unüberschaubare Konvolut an Werken und Schriften zu bringen. Gerade hier liegt aber schon eine Problematik. Die unzweifelhaft notwendige Zuordnung eines Einzelwerkes, sei es wissenschaftlich, literarisch oder einer beliebigen anderen Sparte angehörig, ist bereits eine Annäherung an die Auslegung und Bewertung desselben. Bereits in der im letzten Satz getroffenen Kategorisierung in literarisch oder wissenschaftlich, wird bei erfolgter Einordnung eine Perspektive auf einen konkreten Text beispielhaft festgelegt. Natürlich mag es wenig sinnvoll sein einen wissenschaftlich intendierten Beitrag unter literarischen Gesichtspunkten zu lesen, dennoch ist es möglich und in gewissen Fällen sogar bereichernd. Doch was soll mit dem aufbrechen dieser Problematik bezweckt werden? Soll die Offenheit von Texten gezeigt werden? Sollen bestehende Ordnungssystem in Zweifel gezogen werden? Nein, weder das eine noch das andere.

Vielmehr soll aufgezeigt werden, dass es ohne Einordnung gar nicht (mehr) geht. Dabei handelt es sich nicht nur um ein wissenschaftliches Unvermögen, sondern, so wage ich zu behaupten, um ein menschliches. Das Bedürfnis Elemente der Lebensrealität zu klassifizieren und zu ordnen würde ich als mensch-immanentes Bedürfnis betrachten. Weiters, so scheint es zumindest, ist es sogar, wie oben angedeutet, eine Notwendigkeit. Aus der Einordnung heraus werden neue Sinnzusammenhänge greifbar, neue Denkwege offenbar und neue Synergien zu Tage gefördert. So wenig überraschend das auch ist, so geht mit der Systematisierung auch eine Problematik einher. Denn wo neue Perspektiven eröffnet werden, so werden durch das klassifizieren auch andere Blickwinkel verunmöglicht. Dem versucht man beizukommen, in dem man eine Vielfalt an unterschiedlichen Einordnungen parallel zulässt und so ein breites Spektrum an möglichen und vor allem untereinander vermittelbaren Perspektiven offenhält. Für die Diskussion im Allgemeinen bedeutet das, dass man natürlich im Vorhinein den eigenen Zugangsweg darlegt, ansonsten kann man weder über die Sache, noch über die Näherungsweise an dieselbige diskutieren. Wesentlich ist dabei aber nicht, dass alle Parteien dieselbe Herangehensweise an den Diskussionsgegenstand haben, sondern lediglich, dass jeder die des Gegenübers kennt. Es mag ja durchaus sein, dass für einen konkreten Fall ein Zugang besser geeignet ist als ein anderer.

Problematisch erscheinen nun folgende Punkte: Einerseits besteht die Gefahr den Diskussionsgegenstand aus den Augen zu verlieren und sich unentwegt über unterschiedliche Zugänge zu streiten. Dabei verschiebt man dann die zu diskutierende Sache auf eine Zugangs- oder Methodenfrage, was natürlich legitim ist, aber dann auch klar als solche für alle Parteien klar sein muss.
Andererseits besteht die Gefahr, dass man aufgrund der Gewohnheit alles einzuordnen, zu katalogisieren und eben dahingehend mit einem Etikett zu versehen, den anderen, zumindest aber dessen Position ebenfalls zu etikettieren. Davon abgesehen, dass das wohl kaum dem Gegenüber wirklich gerecht werden kann, besteht die Gefahr, dass die Diskussion dadurch von jeglichem Inhalt entleert wird. Diese Etikettierungsprozesse sind nämlich nicht auf wenige konkrete Einzelne beschränkt, sondern vielmehr ein umfassendes Phänomen. Es ist durchaus denkbar, dass dieses durch den Anstieg der zu verarbeitenden Daten, die dem zeitgenössischen Menschen um die Ohren fliegen, ja, ihn sogar malträtieren können, geschuldet ist. In der Hoffnung nicht in einem Meer aus Information zu ertrinken, ordnet man die Datenflut in Pakete, etikettiert sie und evaluiert auf Basis des Etiketts, ob es wert ist, sich damit zu beschäftigen. Diese durchaus sinnvolle Herangehensweise ist als solche noch nicht problematisch, sondern scheint einfach Realität zu sein und notwendig um dieser beizukommen. Das Problem ergibt sich dann, wenn diese Strategie in abgewandelter Form in die Diskussion eingeht. Die Frage ist konkret: Nehme ich das Gegenüber, dessen Zugang und Argument in Hinsicht auf den Diskussionsgegenstand wahr, oder nur noch in Hinsicht auf das von mir (oder von anderen) vergebene Etikett? Denn wenn letzteres zutrifft, dann ist nicht nur die Diskussion als solche gegenstandslos, man könnte sogar fragen ob es sich überhaupt um eine Diskussion handelt, wenn es keine gemeinsame Basis gibt. Zusätzlich ist es die wohl umfassendste Geringschätzung des Gegenübers, wenn man es auf ein Etikett reduziert, auf das der betreffende zumeist nicht mal Einfluss nehmen kann. Für die Diskussion folgt aus der Gegenstandslosigkeit noch etwas: Sie wird beliebig, und damit sinnlos, sie hört schlicht auf im eigentlichen Sinne zu sein. Es wird vielmehr ein Gespräch, das keinen der Teilnehmenden bereichert, das keinen Mehrwert beinhaltet und das, so ist zu befürchten, lediglich die Etikettierungen durch das Unverständnis des Gegenübers verhärtet.

Was bleibt also? Bei aller Notwendigkeit Einzuordnen, zu katalogisieren und wohl auch zu etikettieren, darf eine Notwendigkeit nicht unter den Tisch fallen: Für die Diskussion ist es notwendig das Gegenüber vollumfänglich teilhaben zu lassen, nicht nur die eigene Meinung, das Etikett desselben.

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eule@turmderwinde.eu

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