In der Rede von den Letzten Dingen warnt Jesus seine Jünger davor, allen möglichen Endzeit-Ängsten zu verfallen. Am Gedenktag des hl Andreas Dung-Lac (und von über 100 Märtyrern im Vietnam) bietet die Bahnlesung Anlass um inne zu halten. Und darüber
In der Rede von den Letzten Dingen warnt Jesus seine Jünger davor, allen möglichen Endzeit-Ängsten zu verfallen. Am Gedenktag des hl Andreas Dung-Lac (und von über 100 Märtyrern im Vietnam) bietet die Bahnlesung Anlass um inne zu halten. Und darüber nachzudenken, worauf wir im Letzten hoffen.
Die Seuche ist nicht das Ende. Auch wenn der Abschnitt im heutigen Evangelium manchmal dahin gehend gelesen wird: Das Evangelium führt nicht eine To-do-Liste Gottes an. Jesus sagt den Jüngern nicht, dass wenn Hungersnöte, Naturgewalten, Kriege und andere “schreckliche Dinge” geschehen, dass dann der jüngste Tag anbricht. Wäre dem so, hätte die Welt schon öfter untergehen müssen.
Tatsächlich will er die hartnäckige Nachfrage der Jünger zurückweisen: Sie wollen unbedingt wissen, wann der Tempel zerstört werden wird. Was für jüdische Ohren gleichbedeutend gewesen sein muss wie die Ankündigung des Endes der Welt. Die zunächst ausweichende Antwort des Meisters weist darauf hin, dass es Fragen gibt, die der glaubende Mensch, die der Jünger nicht stellt: Und zwar weil es zu unserem Glauben gehört, dass wir in Letzten Fragen die Antwort dem allmächtigen Gott überlassen. Dass alles, was Menschen bauen, alles worin sie investieren, auch zerstört werden kann. Natürlich empfiehlt Jesus keine teilnahmslose Schicksalsergebenheit: Das Vertrauen in Gottes Macht hat einen präzisen Zweck – wie Franz von Assisi auch in seiner Vater-Unser-Auslegung formuliert: „Dein Wille geschehe, damit wir Dich lieben und damit wir den Nächsten wie uns selbst lieben indem wir alle nach Kräften zu Deiner Liebe hinziehen“. Am Ende werden wir nach diesem missionarischen Auftrag gefragt werden. Es ist diese Haltung, mit der Andreas Dung-Lac und über 100 andere Christen Mitte des 19. Jhdts der andauernden Verfolgung im Vietnam standhalten konnten, auch wenn sie schlussendlich getötet wurden. Ohne dieses Grundvertrauen gibt es kein Zeugnis: Überlassen wir getrost die Frage nach den Letzten Dinge dem Allmächtigen und sorgen uns lieber um jenen Auftrag, nach den Er uns einmal fragen wird. Die Seuche ist nicht das Ende. (mtz)
Zwei, die hinsichtlich Jahrhundert und je eigener Lebensgestaltung nicht weiter voneinander entfernt sein könnten, finden zueinander. Kalenderbedingt. Der franziskanische Eigenkalender legt für den 21. April den Gedenktag des heiligen Kapuzinerbruders, Konrad von Parzham (1818-1894), fest. Der Bauernsohn aus der Nähe
Zwei, die hinsichtlich Jahrhundert und je eigener Lebensgestaltung nicht weiter voneinander entfernt sein könnten, finden zueinander. Kalenderbedingt. Der franziskanische Eigenkalender legt für den 21. April den Gedenktag des heiligen Kapuzinerbruders, Konrad von Parzham (1818-1894), fest. Der Bauernsohn aus der Nähe von Passau war über 40 Jahre lang umtriebiger Pförtner des Kapuzinerklosters in Altötting. Wegen seines Gebetseifers und der aufopfernden Dienstbereitschaft für Arme und Wallfahrer verehrten ihn bereits seine Zeitgenossen als heiligmäßigen Mann, zu dem jeder mit seinen kleineren und größeren Anliegen kommen konnte. Ein Volksheiliger par excellence: Vom Typ ganz anders als der mittelalterliche Benediktiner-Theologe Anselm von Canterbury (1033-1109).
Die Ordnung im Stundengebet legt nahe, sich für einen der beiden zu entscheiden, d.h. für Franziskaner gibt es eigentlich keine Wahlfreiheit: Der Gedenktag des berühmten Kapuziners ist im seraphischen Eigenkalender[1] ein vorgeschriebener. Für Anselm bleibt da allenfalls Zeit für eine erinnernde “Erwähnung”, für eine „commemoratio“[2]. Wer in der Lesehore die jeweiligen hagiographischen Lesungen der beiden Gedenktage nebeneinander legt und vergleicht, der stellt eine erstaunliche Ähnlichkeit fest. Konrad und Anselm mögen in unterschiedlichen Jahrhunderten völlig unterschiedliche Menschen gewesen sein, inhaltlich finden sie im Evangelium zu denselben Schwerpunkten. Im Prinzip lebt Konrad, was Anselm beschreibt. Oder anders formuliert: Im Grunde hatte der Bischof von Canterbury schon erfahren, was der Pförtner von Altötting dann auch erzählt. Es ist übrigens eher auszuschließen, dass der Kapuzinerbruder den fast 800 Jahre älteren Benediktiner-Bischof selbst gelesen hat, und eventuell abgekupfert hat.
Die Anselm-Lesung bietet einen Text, der aus Ausschnitten unterschiedlicher Kapitel des Proslogion besteht. In diesem Werk führte Anselm im 11. Jahrhundert seinen „Ontologischen Gottesbeweis“, jene vielfach zitierte Argumentation, mit der die Existenz Gottes auch Nichtchristen gegenüber bewiesen werden sollte. Die Abschnitte stammen aus dem XIV. (Entdeckung des unerreichbaren Lichtes), dem XVI. (Anerkennung des unerreichbaren Lichtes) und dem XXVI. (Gebet, um in die vollkommene Freude Gottes zu gelangen) Kapitel. Der Argumentationsstil entspricht der Sprache der Scholastiker: ein bisweilen trockenes Unterscheiden von Begriffen. „Clare et distincte“ (Klar und unterschieden) nannte Descartes diese Art der Wissenschaftlichkeit. Canterburys Grundaussage: Der Philosoph (Anselm schreibt in der Ich-Form) möchte Gott erkennen, ihn lieben und sich an ihm erfreuen.
Anders stellt sich der Konrad-Text dar: Es ist ein Brief, in dem der Kapuziner-Bruder von seiner Berufung erzählt. Im Rückgriff auf eine betont einfache Erläuterung, bei der sich Konrad auch nicht scheut, kindlich zu erscheinen, streicht der Ordensmann hervor, dass er nun glücklich und zufrieden ist. Als Leser soll man den Eindruck haben: Da ist ein Mensch, der seine Bestimmung gefunden hat. Und zwar indem er auf den zuerst von Gott ausgegangenen Ruf geantwortet hat.
Beiden Texten gemeinsam ist zunächst, dass die zwei Autoren von ihrer Suche erzählen. Konrad beschreibt ein “Staunen”, aber auch die Klagen und Bitten, die er an Gott richtet. Seine eigenen und die jener anderer Menschen. Weiß er weder ein noch aus, richtet er die Frage an seinen Herrn: Das Kreuz Christi ist sein „Buch. Nur ein Blick auf ein Kreuz lehrt mich in jeder Gelegenheit, wie ich mich zu verhalten habe.“ Anselm formuliert in Kategorien der Philosophie: Im Proslogion ist die „verlangende Seele“ jene Triebfeder, die Gott sucht, die ihn erkennen will. Gott selbst ist die alles übersteigende und auch vom menschlichen Auge nicht wahrnehmbare Wirklichkeit. Allerdings ist Gott eine Wahrheit, von der Anselm erwartet, dass sie ihn selig macht. Eine Wahrheit, die stets „fern von mir [ist], obwohl ich doch so nahe bei Dir bin.“ Beide beschreiben sich als Geschöpfe, die auf dem Weg sind. Beide beschreiben Bewegung, nicht eine statische „Visio beatifica“.
Die Unzulänglichkeit des Menschen
Beiden Heiligen gemein ist die grundsätzliche Überzeugung der eigenen Unzulänglichkeit. Anselm umschreibt das als grundsätzliche Unfähigkeit: Er kann Gott nicht sehen, weil dieser zu hell und das eigene Auge zu krank ist. Seine Vernunft ist ohnmächtig, weil sie Gott nicht erfassen kann. Und sein Leben wird bestenfalls ausreichen, um am Ende die Freude an Gott nur fast zu erreichen. Und das auch nur, wenn er täglich auf dem eingeschlagenen Weg fortschreitet. Konrad muss das, was wir heute “Kontingenz des Menschen” nennen, also die eigene Unzulänglichkeit, nicht eigens formulieren. Der Kapuzinerbruder weiß von der eigenen Beschränktheit. Er führt aber aus, wie er damit umgeht: Demut, Sanftmut und Geduld. Was auf den ersten Blick wie ein Versatzstück aus franziskanischen Handbüchern klingt, ist in Wirklichkeit ein hartes Stück Arbeit an sich selbst: Zwischen quengelnden Besuchern und nicht immer zustimmenden Mitbrüdern ist Geduld das, was einem meistens dann fehlt, wenn man es am meisten brauchen würde.
In beeindruckender Übereinstimmung formulieren beide Heilige dasselbe Ziel: die Liebe. “Ich bin bemüht, ihn recht zu lieben”, schreibt Konrad in dem Brief. Gemeint ist Gott. Ein “Seraph in der Liebe” möchte er sein, am liebsten hätte er, wenn alle Geschöpfe ihm dabei helfen würden. Das ist sein eigentliches Ziel im Leben, denn die Liebe zu Gott – darin ist sich Konrad ziemlich sicher – macht ihn glücklich. Fast identisch hatte das Anselm formuliert. Im XVI. Kapitel des Proslogion: “Mein Gott, ich bete: ich möchte dich erkennen, dich lieben und an Dir mich freuen”. Beten heißt also Gott lieben. Und das bringt Freude. Eine existentielle Freude. Ein Vollendet-, ein Angekommen sein. Nur wenn seine Liebe zu Gott im irdischen Dasein ständig zunimmt, werden das Erkennen und die Freude im Jenseits vollkommen sein.
Fazit: Zwei Arten, ein Glaube
Fazit: Bisweilen ist heute noch zu lesen, dass sich spekulative oder akademische Theologie und gefestigte Volksfrömmigkeit einander ausschließen. Es gibt Theologen, denen sind die meisten Arten von Frömmigkeit verdächtig. “Frömmeln” ist fast immer pejorativ gemeint. Umgekehrt misstrauen Gläubige den Absichten der akademischen Theologie. Zu wenig Glaube wird den Theologen unterstellt. Manchmal sogar eine Art Verrat an der Frohen Botschaft. Allein schon die Ordensgeschichte der Franziskaner ist von Beginn an von solchen Spannungen gezeichnet. Franz von Assisi hat das vorausgesehen und gespürt. Als er seraphische Ordensgründer seinem Mitbruder, dem [heiligen] Antonius von Padua, anträgt, die Brüder in Theologie auszubilden, will er vorab schon diesen Gegensatz entschärfen. “Es gefällt mir, dass du den Brüdern die heilige Theologie vorträgst, wenn du nur nicht durch dieses Studium den Geist des Gebetes und der Hingabe auslöschst, wie es in der Regel steht”, schreibt Franziskus an Antonius. Er will nicht, dass die Brüder aus Unbildung eine Tugend machen. Gleichwohl fordert er, dass man Theologie nicht um ihrer selbst willen studiert.
Dass dies möglich ist, und dass im Grunde die eine wie andere Seite dasselbe denken und leben können, es nur anders ausdrücken, das sieht man an dem Duo Anselm von Canterbury und Konrad von Parzham. Die sich nicht nur den Gedenktag, sondern augenscheinlich auch dieselbe Botschaft teilen.
[1] Das Adjektiv „seraphisch“ gilt dem Ordensgründer Franz von Assisi oder für seinem Orden. Die leidenschaftliche Hingabe des Franz von Assisi ähnelt gemäß Überlieferung dem Brennen eines Seraphen.
[2] Allgemeine Einführung in das Stundengebet, 239.
Die katholische Kirche hat am 21. April des Benediktinermönchs und Philosophen Anselm von Canterbury (1033-1109) gedacht. Heute kennt ihn nur mehr ein überschaubarer Kreis von Theologen oder kirchlichen Insidern. Dabei prägte sein Denken über Jahrhunderte hinweg nicht nur die Theologie,
Die katholische Kirche hat am 21. April des Benediktinermönchs und Philosophen Anselm von Canterbury (1033-1109) gedacht. Heute kennt ihn nur mehr ein überschaubarer Kreis von Theologen oder kirchlichen Insidern. Dabei prägte sein Denken über Jahrhunderte hinweg nicht nur die Theologie, sondern auch viele Generationen an weltlichen Philosophen. Wie kaum ein anderer steht Anselm für das Zueinander von Glaube und Vernunft. Mindestens in zweifacher Hinsicht ist der “Vater der Scholastik”, wie ihn der Dogmengeschichtler Martin Grabmann genannt hat[1], von besonderer Aktualität.
Was wir heute brauchen könnten
Die Methode. Zu den in der mittelalterlichen Scholastik üblichen Debatten gehörte eine dialektische Argumentationsstruktur. Vor jeder eigenen Schlussfolgerung führte man ein Gegenargument an, das man zu widerlegen gedachte. Die Folge war eine irgendwann unübersehbare und oft sehr sperrig daher kommende Abfolge von Satzkonstrukten, sodass diese Art der inhaltlichen Auseinandersetzung irgendwann verschwand. Heutzutage ist die Ausgangslage indes umgekehrt: Da zählt mehr das Appellieren an jene, die eh derselben Meinung sind. Wären wir gezwungen, etwaige Gegenargumente in die eigenen Überlegungen zu formulieren, wäre mancher Shitstorm ein differenziertes Auseinandersetzen.
Aber Anselm, der nach seiner Ernennung zum Erzbischof von Canterbury, in einen Investiturstreit mit dem englischen König Wilhelm II. (“Rufus”) geraten war, geht noch einen Schritt weiter: Weil sein ontologischer Gottesbeweis auch unter Fachkollegen Widerspruch ausgelöst hatte, ergänzt er sein “Proslogion”. Und nimmt dabei Bezug auf die Einwände seines größten Kritikers, des Gaunilo von Marmoutiers. Spätere Ausgaben des Proslogion bringen die Kontroverse der beiden Mönch-Theologen zusammen. Vielleicht schaffen wir es zeitgenössische TheologInnen ja auch irgendwann einmal, im akademischen Eifer, beispielsweise, um kirchliche Ämter auf die Argumente von “Ordinatio Sacerdotalis”[2] einzugehen. Bis dahin bleibt Anselm unerreichter Champion fruchtbringender Auseinandersetzung.
Die Grenzen der Ratio
Beziehung ist Denken und Spüren. Die europäische Kulturgeschichte verortet die Wende, in welcher der Mensch sich selbst in sein Denken stellt, in die Renaissance. Tatsächlich aber gewinnt das “Subjekt” bereits in den Überlegungen der Scholastiker an Bedeutung. Anselm wollte mit den Mitteln der Vernunft die Existenz Gottes beweisen. Und zwar so, dass dies auch für Nichtglaubende nachvollziehbar erscheint. Sein Glaube sollte etwas sein, das der Vernunft nicht nur nicht im Weg steht, sondern dieser auch entspricht: Seine „fides quaerens intellectum“, sein „Glaube, der nach Einsicht fragt“ führt Anselm schließlich zu der berühmten Aussage im Gottesbeweis: Gott ist das, worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann. Doch mitten in der Argumentationskette findet sich plötzlich ein Bruch: Im 14. Kapitel formuliert Anselm eine Art Gebet, eine direkte Rede, in der sich der Denker fragend an die eigene Seele wendet:
Hast du, meine Seele, gefunden, was Du suchtest?
Du suchtest Gott und hast gefunden:
er ist ein Allerhöchstes – nichts Besseres als ihn kann man sich denken;
und dies ist das Leben selber, das Licht, die Weisheit, die Güte,
die ewige Seligkeit und selige Ewigkeit;
und das ist allerorts und allezeit.
Denn wenn du deinen Gott nicht gefunden hast:
wieso ist er das, was du gefunden hast
und als was du ihn mit so sicherer Wahrheit und wahrer Sicherheit erkannt hast?
Hast du aber gefunden:
wie kommt es, daß du nicht fühlst, was du gefunden hast?[3]
Was ihm spätere Philosophen als Schwäche auslegen, nämlich, dass Anselm nicht durchgehend logisch oder vernünftig argumentiert, erscheint vielmehr der eigentliche Kern seines „Beweises“: G’tt kann man zwar denken, aber irgendwann kommt die Nagelprobe: Irgendwann muss er spürbar sein. Sonst ist er nicht.
In diesem Seelen-Dialog offenbart sich eine regelrechte Krise des denkenden Theologen. Der Zweifel ist zwar in jedem Denkprozess Triebfeder der intellektuellen Reflexion, kaum aber wird er irgendwo so existentiell, wie bei Anselm. „Alle Werke Anselms kennen einen kritischen Punkt, einen Moment der Krise und einen Wendepunkt, einen heiklen und starken Übergang auf der reflexiv-transzendentalen und der affektiv-dramatischen Ebene, in welcher sich alle Koordinaten des Gedankenganges zuspitzen und sich verschärfen, sich die Aporien des zurückgelegten Wegs entpuppen und ein Perspektivenwechsel erfordert wird“[4], stellt der Anselm-Experte P. Elmar Salman OSB fest.
Aus der Krise in das Bewusst-Sein
Hierin wird Anselm beeindruckend aktuell: Der Scholastiker macht aus der Gottesfrage eine Frage nach dem Subjekt. Und das Subjekt ist dabei auch ein fühlendes. Bedingt das nach Gott suchende Subjekt aber sowohl eine reflexive als auch eine affektive Ebene, dann entsteht ein subjektives Selbstbewusstsein des Ich. Wobei bei Anselm immer klar bleibt, dass das subjektive Bewusstsein nie von einer objektiven Wahrheit abzusehen vermag.
Mehr als akademische Vernunft: Sich aussetzen
Nach dem Religionskritiker Ludwig Feuerbach ist das Nachdenken über Gottesbildern in Misskredit geraten. Zu schlagend erschien sein Urteil, wonach die Frage nach G’tt in nichts anderes als in eine menschliche Projektion führen könne. In jüngerer Zeit der Postmoderne beschäftigt sich die Theologie wieder vereinzelt damit. Allerdings konzentrieren sich die Debatten hauptsächlich auf das Auffinden und Dekonstruieren angeblich „falscher Gottesbilder”. Mutig hingegen wäre es, sich selbst, sein eigenes Ich, dem Zweifel auszusetzen. Und dann erst nach G’tt zu fragen. Eine solche Theologie braucht und leistet mehr als akademische Vernunft allein.
[1] Grabmann, Martin: Geschichte der scholastischen Methode, Bd. 1, Berlin 1956, 258-340.
[2] Johannes Paul II.: Ordinatio Sacerdotalis, Apostolisches Schreiben über die nur Männern vorbehaltene Priesterweihe vom 22. Mai 1994
„Baumärkte offen, Kirchen zu. Das geht gar nicht“. So titelt die „Kleine Zeitung“ am Freitag der Osteroktav (17.4.). Der Schlachtruf bundesdeutscher Kulturkämpfer ist inzwischen auch im mittel- und südeuropäischen Raum angekommen. Und trifft in der Coronakrise den Nerv von vielen
„Baumärkte offen, Kirchen zu. Das geht gar nicht“. So titelt die „Kleine Zeitung“ am Freitag der Osteroktav (17.4.). Der Schlachtruf bundesdeutscher Kulturkämpfer ist inzwischen auch im mittel- und südeuropäischen Raum angekommen. Und trifft in der Coronakrise den Nerv von vielen Gläubigen, die im Lockdown ernsthaft um ihr Gebetsleben fürchten und deren Seele aufrichtig in Unruhe geraten ist. Den medialen Wirbel losgetreten hatte eine Splittergruppe in Berlin, die sich von niemandem verbieten lassen will, Gottesdienst zu halten. Auch von einer Seuche nicht.
Flugs waren die Fronten im diskursiven Stellungskrieg gezogen: Hier die Aufrechten, die der Botschaft Treuen. Dort irgendwelche „linksgrünversiffte“ Regierungspolitiker, die mit Segen von „Lapsi“[1]-Bischöfen der Kirche Christi den Garaus machen wollten. Wieder einmal sind die Menschen aufgefordert, die (richtige) Seite zu wählen.
Nur mit Volk und Sakramenten ist Kirche
Von einem katholischen Standpunkt aus gesehen, liegen die Dinge eindeutig. Papst Franziskus wiederholt es seit Tagen: Die Sorge um die eigene Seele ist für jeden Menschen von existentieller Bedeutung. Für den Katholiken geschieht dies über die Teilnahme an den Sakramenten. Ebenfalls am Freitag der Osteroktav legt der Pontifex nach. Zum Tagesevangelium, das von den Jüngern erzählt, die am See von Tiberias mit dem Auferstandenen Fisch und Brot essen (Joh 21, 1-14), stellt der Papst klar: Jesus lebe eine „Trautsamkeit, die im Beisammensein des gemeinsamen Essens“ geschieht. Angewendet auf das heute, will Franziskus, dass allen eines klar bleibt: Die Maßnahmen in der Pandemie-Zeit „dienen dazu, den Tunnel zu verlassen, nicht um dort zu verbleiben“. Es gebe keinen „intimistischen Glauben“, keinen Glauben, der nur auf sich selbst bezogen sei. Oder der nur vom Computer übertragen werden könne. „Dies ist nicht die Kirche. Es ist die Kirche, die sich in einer schwierigen Situation befindet, die der Herr zulässt. Aber das Ideal der Kirche ist immer mit dem Volk und den Sakramenten.“ Sagt der Papst.
Kein Sakrament wird von einem Gericht erlaubt
So weit, so gut. Aber hätte man nicht zu Ostern die Menschen zur Messe lassen können? Und wie ist das jetzt mit dem säkularen Staat, der den Katholiken ihre Religionsausübung verbieten will? Zumindest für die katholische Kirche gilt: Kein Konkordat in Mitteleuropa ist so gelagert, dass ein Staat grundsätzlich Messen verbieten kann, wenn denn die Bischöfe es anders beschließen würden. Vor jedem Verbot beraten sich Regierungen mit den zuständigen Kirchenstellen. Das deutsche Bundesverfassungsgericht anzurufen, ist also zweckbefreit. Es wird dabei genau so wenig mitreden, wie bei der Frage ob Weihekriterien der Geschlechtergerechtigkeit entsprechen. Auch keine Regierung würde sich trauen, ein generelles Verbot gegen den Willen der Bischöfe durchzusetzen. Nicht in Deutschland, nicht in Österreich und schon gar nicht in Italien.
Wir machen als Kirche keinesfalls den Bückling vor irgendeiner Regierung. Die Regierung entscheidet in ihrem Bereich, dort verbleibt sie und hat zu verbleiben. Aber wir haben unsere eigenen Gründe. (Bischof Antonino Raspanti)
Im Apenninen-Staat hat die Kirche schneller gehandelt als die staatlichen Stellen. Als die Erzbischöfe von Bologna und Mailand einseitig die Aschermittwoch-Feiern de facto aussetzten, war allen klar, dass das Virus in einen Lockdown führen würde. Inzwischen gibt es zwar jede Menge staatliche Regeln, die auch eine kirchliche Versammlung unter staatliche Strafe stellen, aber von einer “Einmischung” spricht nur eine Minderheit. „Wir machen als Kirche keinesfalls den Bückling vor irgendeiner Regierung. Die Regierung entscheidet in ihrem Bereich, dort verbleibt sie und hat zu verbleiben. Aber wir haben unsere eigenen Gründe“, sagt Antonino Raspanti noch in der Karwoche in einem Interview mit der Redaktion „La Stampa“. Raspanti ist Bischof von Acireale und einer von drei Vizepräsidenten der italienischen Bischofskonferenz CEI[2]. Und er fügt hinzu: „Stellen wir uns vor, von einer unserer Messfeiern würde ein neuer Infektionsherd ausgehen. Dann schon würden wir Krokodilstränen weinen, und ein mea culpa wäre scheinheilig.“
Vorbild Italien: Der Plan der Kirche
Wie beim Einführen der Maßnahmen werden Deutschland, Österreich und die anderen Staaten darauf achten, was die Italiener bzw. was die Kirche in Italien machen wird. Schon ab dem Weißen Sonntag wird es bezüglich Liturgie Lockerungen geben. Einige Bischöfe werden mit einem erweiterten Kreis an Mitarbeitern die Messe feiern und diese übertragen. Für den 4. Mai dann haben die Experten der Bischofskonferenz einen Stufenplan erarbeitet. Den sie nun mit den staatlichen Stellen abklären. „Wir gehen keinen Schritt zurück, auch, weil wir gezeigt haben, dass man in Sicherheit zelebrieren kann“, erklärt Ivan Maffeis. Der aus Trient stammende Priester ist Kommunikationsexperte und ein Untersekretär der CEI. Ab Mai soll es also wieder Messfeiern mit der Beteiligung einer größeren Anzahl von Menschen geben. Generell werden dann Vorschriften zum Abstandhalten, zum Tragen von Masken oder Handschuhen und zur Einhaltung genauer Hygiene-Vorschriften gelten. Den Journalisten von „Vatican News“ hat Maffei Details durchklingen lassen, die im Plan der Bischöfe stehen. Und deren Umsetzung sie jetzt noch abwägen. Entschieden werde in den kommenden Tagen.
Der Empfang der Kommunion wird wie vor dem Lockdown eine Zeit lang nur über Handkommunion möglich sein. Priester, Diakone und Kommunionhelfer sollen vor und nach der Darreichung die Hände desinfizieren.
Der Handschlag oder eine Umarmung beim Friedensgruß werden ausgelassen.
Innerhalb des Kirchenraumes soll ein Abstand von mindestens einem Meter vorgeschrieben sein. Dafür können sich einige Bischöfe vorstellen, dass Freiwillige am Eingangsportal auf eine Begrenzung der Teilnehmerzahl achten[3]. Die Anzahl der Teilnehmer soll sich nach der Größe der Kirche richten.
Es wird auch für Kirchenchöre oder Kirchenorchester eine vorgeschriebene Verkleinerung der Musiker geben, damit diese den Abstand einhalten können.
Ab dem 3. Mai soll es Beerdigungen, Taufen und Hochzeiten geben. Die Anzahl der Teilnehmer wird aber begrenzt sein.
Erstkommunion und Firmungen werden auf Herbst verschoben.
Die noch weithin offene Frage betrifft die Wiederaufnahme der Pilgerfahrten. „Erst wenn wir wieder nach Lourdes oder ins Heilige Land pilgern können, werden wir wissen, dass die Notsituation vorbei ist“, sagt Maffei.
Es gilt als unwahrscheinlich, dass sich staatliche Stellen dem Plan der italienischen Bischöfe entgegenstellen. Einen Kulturkampf wird im virusgebeutelten Italien niemand draus machen. Covid19 hat allein in Italien über 100 Priester das Leben gekostet. Darunter auch einigen Bischöfen. Die Diskussion darüber, ob man früher aufsperren hätte können, ist für italienische Hirten insofern eher müßig. Es gibt Regionen auf der Welt, in denen Christen an der Ausübung ihres Glaubens gehindert werden. Und es gibt auch in Europa für Christen bisweilen Gegenwind. Aber nicht bezüglich Covid19. Im Notfall scheint wenig so zu funktionieren wie die kirchliche Hierarchie.
Bei Augustinus nachzulesen
Die Bischöfe wandern zwischen Verantwortung für die Gesundheit, die sie haben und der Obsorge um Sakramente, die ihnen zukommt. Ein Baumarkt ist da leichter zu organisieren. Von wegen „Lapsi“ – Die Job-Beschreibung für einen Bischof stammt von niemand Geringerem als Augustinus. Der leitet aus dem Neuen Testament einen regelrechten Aufgabenkatalog für einen Bischof ab:
„Die Unruhigen muss man tadeln, die Kleingläubigen trösten, die Schwachen annehmen, die Widersprechenden widerlegen, vor den Tückischen muss man sich hüten, die Unerfahrenen lehren, die Trägen antreiben, die Streitsüchtigen zügeln, die Überheblichen tadeln, die Verzweifelten aufrichten, die Streitenden befrieden, den Mittellosen helfen, die Unterdrückten befreien, die Guten bestätigen, die Bösen ertragen, alle lieben.“ (Sermones). Das ist es, was die meisten Bischöfe derzeit versuchen. Alles andere ist nicht katholisch.
[1] Als „Lapsi“ (vom lateinischen Verb “labi”, “gefallen sein”) bezeichnete man in der vom römischen Reich verfolgten Alten Kirche jene Christen, die dem Glauben abgeschworen hatten. Wie mit ihnen nach Beendigung einer Verfolgung umzugehen sei, war jahrhundertelang ein Streitfall.
[2] Die CEI, die „Conferenza Episcopale Italiana“ ist die italienische Bischofskonferenz. Sie zählt 233 Mitglieder und ist in 15 Regionalkonferenzen unterteilt. Als weltweit einzige BiKo wird ihr Vorsitzender nicht gewählt, sondern vom Papst ernannt. Seit 2017 steht ihr Gualtiero Kardinal Bassetti vor, der Erzbischof von Perugia.
[3] Bis 1972 waren Ostiarier (“Türhüter) geweihte Männer, die auf die Sicherheit und Ordnung im Kirchenraum geachtet haben. Im Zuge der Vereinheitlichung des Weiheamtes durch das Zweite Vatikanische Konzil hat Paul VI. das Amt abgeschafft.
Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir: Herr, höre meine Stimme! Wende dein Ohr mir zu, achte auf mein lautes Flehen! Die Verzweiflung, die man in Zeiten der Not und in der Ausweglosigkeit erfährt, spiegelt sich schon in
Die Verzweiflung, die man in Zeiten der Not und in der Ausweglosigkeit erfährt, spiegelt sich schon in den ersten beiden Versen des Psalms 130 wider. Dieser Psalm begleitet die jüdischen und die christlichen Glaubensgemeinschaften seit Generationen. Im Gebet verbleibt man aber nicht in der bestehenden Situation der Not, sondern diese wird aufgelöst, in der Hoffnung auf den Herrn. Bereits im Gebet setzt man den ersten aktiven Akt, der aus der Not befreien soll: Aus der Klage wird Aktion.
Der Weg des Widerstands
Dieses Tätigwerden in der Bedrängnis zeichnet auch das Leben von Pater DDDr. Kapistran Pieller OFM aus. Der 1891 als Wilhelm Pieller geborene Märtyrer trat 1909 in die Wiener Franziskanerprovinz ein und bekam den Ordensnamen Johannes Kapistran. Obwohl er die Universitätsreife nachholen musste, nahm sein Lerneifer nach dem Grundstudium der Theologie und seiner Priesterweihe 1918 nicht ab, so dass er schließlich drei Doktorgrade in Staatswissenschaften, Rechtswissenschaften und Theologie erlangte. Diese hohe Bildung wirkte sich scheinbar auch auf seine Predigten aus, so seien diese „hochwissenschaftlich“ und schwer verständlich gewesen, so berichtet es die Klosterchronik des Grazer Konventes, in dem er die meiste Zeit seines Ordensleben verbrachte. Trotz der offenkundigen Liebe zur akademischen Wissenschaft war sein Lebensmittelpunkt das Evangelium, der Glaube an Jesus Christus und Nachfolge nach der Art des Hl. Franziskus von Assisi. So diente er nicht nur als Ordensmann und Priester, sondern auch als Seelsorger einer Studentenverbindung in Graz, der K.Ö.H.V. Carolina. Kapistran Pieller durchlebte den ersten großen Krieg und die Not und Verzweiflung der Zwischenkriegszeit gläubig und im Dienst des Ordens. Mit dem Anschluss Österreichs an Deutschland gingen nicht nur politische und gesellschaftliche Änderungen einher, auch der Orden der Franziskaner war gezwungen Umzustrukturieren: Das Kloster Eisenstadt, welches bis dahin von der ungarischen Franziskanerprovinz verwaltet wurde, wurde der Wiener Provinz überschrieben, da es nicht mehr mit Ungarn besetzt sein durfte. P. DDDr. Kapistran Pieller kam aus diesem Grund 1940 ins Franziskanerkloster Eisenstadt. In diese Zeit fällt auch seine Unterstützung für die „Antifaschistische Freiheitsbewegung Österreichs“ (AFÖ). Die drei Schlüsselfiguren der Bewegung waren der Priester Dr. Anton Granig und der Landtagsabgeordnete Karl Krumpl, beide aus Kärnten, sowie der Franziskanerkleriker Frater Benno. Letzterer war als Soldat in Klagenfurt tätig und verteilte regimefeindliche Flugzettel. Bei deren Erstellung unterstützten ihn die beiden Patres Angelus Steinwender und Kapistran Pieller. Am 23. August 1943 wird Kapistran Pieller, nach vorangegangener Inhaftierung seines Provinziales Pater Angelus Steinwender, von drei Männern der GeStaPo „ohne Bekanntgebung der Ursache“ festgenommen.
Prozess und Verurteilung
Der Prozess gegen sämtliche verhafteten Aktivisten der Antifaschistischen Freiheitsbewegung Österreichs fand im August 1944 statt und endete mit der Verurteilung von acht der 13 Mitglieder der AFÖ zum Tode, unter ihnen Pater Angelus und Pater Kapistran. Trotz der Einreichung mehrerer Gnadengesuche bei den NS-Stellen wurden die beiden Gefangenen am 4. April 1945 im Zuge eines Gefangenentransportes in die Haftanstalt Stein an der Donau überführt. Der viertägige Fußmarsch glich nach den Umständen der Haft bereits einem Todesmarsch, so berichtet ein Augenzeuge: “Da sieh! … Wie sie paarweise aneinandergekettet aus dem Tore schreiten. … Der Zug der Todeskandidaten. In grauen Kluften, mit grauen, verfallenen Gesichtern. … Wesen, die noch nicht tot sind und nicht mehr leben.”
Drei Tage vor deren Ankunft war es im Steiner Gefängnis zu einem Massaker gekommen: Als der Leiter der Anstalt, Hofrat Kodré, am 6. April die Freilassung der etwa 1800 Insassen anordnete und bereits etliche von diesen in Freiheit waren, rückten plötzlich Kräfte der SS, SA und Wehrmacht aus und richteten “ein unvorstellbares Blutbad” an. NS-Leute übernahmen die Leitung des Gefangenenhauses. Am 15. April wurde der Befehl zur Hinrichtung der 46 Wiener Häftlinge erteilt. Jeweils zu zweit wurden sie von den GeStaPo-Henkern im Hof der Anstalt erschossen.
P. Angelus Steinwender und P. Kapistran Pieller waren sofort tot. Die beiden Patres fanden ihre letzte Ruhestätte in einem Massengrab in Stein.
Kraft aus dem Glauben
Kapistran Pieller und alle Beteiligten der AFÖ sind also in großer Not tätig geworden. Sie haben geklagt, sie haben aus der Tiefe gerufen und die Kraft gefunden, der Not zu begegnen. Kapistran Pieller fand aus seinem Glauben und aus seiner Berufung heraus die Kraft, gegen das Unrecht und die faschistische Ideologie einzutreten. Seine Überzeugung aus dem Evangelium heraus Leben zu wollen, war unvereinbar mit den nationalsozialistischen Machenschaften, hier entsprang sein Widerstand. In der Not war ihm Gott nicht fern, seine Klage kam an und er wurde tätig um gegen den beklagenswerten Zustand anzukämpfen. Bis zu seinem Tod für den Glauben und für ein freies Österreich.
Zum 75. Todestag der Märtyrer gedachten am 15. April 2020, Mitbrüder und Gläubige der Blutzeugen im Franziskanerkloster Graz.
Links: P. DDDr. Kapistran Pieller, rechts: P. Dr. Angelus Steinwender.
Der vorliegende Text ist auf Basis einer Arbeit von Br. Johannes Pio Maria Pfister OFM, Theologiestudent des Grazer Franziskanerklosters entstanden.
Zu den Einrichtungen, die sich in der Covid19-Krise bewähren, gehört ganz ohne Zweifel die römisch-katholische Amtskirche. Auf allen Ebenen. Schnell, viel schneller als der den Vatikan umgebende Staat Italien, haben die Bischöfe im Stiefelstaat auf Krisenmodus umgeschaltet. “Participatio actuosa“: Das
Zu den Einrichtungen, die sich in der Covid19-Krise bewähren, gehört ganz ohne Zweifel die römisch-katholische Amtskirche. Auf allen Ebenen. Schnell, viel schneller als der den Vatikan umgebende Staat Italien, haben die Bischöfe im Stiefelstaat auf Krisenmodus umgeschaltet. “Participatio actuosa“: Das geschieht seit der Aschermittwoch-Woche fast ausschließlich über Medien.
Der Streit um die “ausgeschlossenen Gläubigen” bzw. um die angeblichen “allein gefeierten Messen” ist großteils eine rhetorische Konstruktion im binnenkirchlichen Krieg der Standpunkte. Natürlich haben fast alle Katholiken in Europa (und anderswo auf der Welt) auf schmerzliche Weise Ostern “anders” gefeiert als sie es sonst tun. Und wir nehmen auch weiterhin auf eine “eingeschränkte” Art an den Sakramenten teil. Aber viele, sehr viele Gläubige “partizipieren” ungebrochen am Geheimnis ihres Glaubens.
Eucharistische Anbetung: Minutenlange Stille
Die kleine und relativ junge Fernsehanstalt TV2000 der italienischen Bischofskonferenz meldete am Osterdienstag rekordverdächtige Zahlen: Über den Sender hätten in der Krise bisher rund 14 Millionen Menschen nur an der Frühmesse des Papstes in St. Marta und am täglichen Rosenkranz teilgenommen. RAI1, das Flaggschiff des staatlichen Fernsehens in Italien, hat sich inzwischen an die Übertragung angeschlossen und erreicht mit dem täglichen Gottesdienst von Papst Franziskus traumhafte Einschaltquoten von 25%. Zu Erinnerung: Die relativ kurz gehaltene Frühmesse beendet der Pontifex jeden Tag mit der Aussetzung des Allerheiligsten. Minutenlang verweilen Millionen Gläubige nur in dessen Betrachtung. Um für eine eucharistische Anbetung vergleichbare Zahlen an Teilnehmern zu finden, muss man in die Zeit von Benedikt XVI. zurückschauen: zu den Weltjugendtagen in Köln (2005) und Madrid (2011).
Natürlich ist nach katholischer Auffassung die Übertragung einer Messe nicht dasselbe wie eine physische Teilnahme daran. Immerhin ist Teilnahme an der Messe keine Privatangelegenheit, sondern immer als ein Gemeinschaftsakt zu verstehen. Der italienische Priester, Theologe und Journalist, Antonio Rizzolo, hat sich in einem Beitrag von 2015 für die internationale Online-Publikation aleteia.org der Frage nach der Gültigkeit von übertragenen Gottesdiensten angenommen.
Wer durch ernsthafte Gründe in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist, für den gilt die sonn- und festtägliche Verpflichtung zur Messteilnahme nicht. Aber “die Teilnahme an der Messe” sei nicht nur eine Frage der juristischen Sonntagspflicht. Vielmehr sei sie sowohl das “Geschenk der Begegnung mit dem Herrn” als auch “der Begegnung mit seinem Leib, der Kirche”, schreibt Rizzolo und verweist auf eine “Pastorale Erklärung” der italienischen Bischofskonferenz aus dem Jahr 1984 (“Il Giorno del Signore“, auf Deutsch “Der Tag des Herrn”):
“Die Messe im Fernsehen wird häufig mit Beteiligung und Andacht vom kranken Menschen, vom alten Menschen oder von jemandem, der nicht persönlich in die Kirche gehen kann, erlebt. Und gerade dem letzteren kann sie einen spirituell sehr nützlichen Dienst anbieten.”
Dass “ernsthafte Gründe” vorliegen, dürfte von niemandem bezweifelt werden. Dass das nicht nur irgendwelche Staatslenker so sehen, sondern die Bischöfe, denen in Glaubensfragen die Entscheidung zukommt, ebenso. Dass es sich um zeitlich begrenzte Maßnahmen handelt und nicht einfach der Kirchenraum mit dem Fernsehgerät ausgetauscht wird, ist auch klar. Aus der Viruszeit eine Frage des Feststehens im Glauben zu machen, ist theologisch unhaltbar. Und Millionen Menschen leben es tagtäglich anders.
Ich habe ein Buch gekauft. Oder vielmehr: Es ist ein Heft, eines dieser blauen Reclam-Heftchen, die für den Unterricht herausgegeben werden. Man soll damit etwas lernen oder üben. Gekauft habe ich es kurz vor dem #Lockdown in Österreich, jenem Moment,
Ich habe ein Buch gekauft. Oder vielmehr: Es ist ein Heft, eines dieser blauen Reclam-Heftchen, die für den Unterricht herausgegeben werden. Man soll damit etwas lernen oder üben.
Gekauft habe ich es kurz vor dem #Lockdown in Österreich, jenem Moment, in dem sich, bedingt durch das #Coronavirus, das Leben auch in Graz vornehmlich ins Innere verlagert hat. Das Heftchen stammt aus dem Jahr 2012 und trägt die Nr. 15236 mit dem Titel “Der Essay. Texte und Materialien”.[1] “Wenn es gar nichts geworden ist, dann sag, es sei ein Essay“, hat Kurt Tucholsky 1931 geschrieben (“Die Essayisten”)[2]. Der wusste also auch nicht so recht, was ein Essay ist.
Warum Schreiben
Schreiben wollte ich immer dann, wenn ich etwas zu sagen hatte. Oder etwas von dem zu erzählen meinte, was ich gehört oder erfahren hatte. Bestenfalls sollte es nicht schon wer anders geschrieben haben. Das lernt man als Journalist. In Zeiten von #Covid19 sind solche Schreib-Impulse weniger von Belang. Es gibt eine Unzahl an Nachrichtenseiten, die dieselben Zahlen immer wieder vermelden. Nur halt mit neuem Titel. Wir erleben Experten (und Expertinnen), die wissen, dass schon alles gesagt ist, nur noch nicht von jedem. Und die den #Lockdown damit bewältigen, dass sie ihren Mitmenschen gut gemeinte Ratschläge geben: zum Backen, Kochen, Haushalten, Nachdenken, Schreiben, Vordenken, Turnen, Videostreamen, Aufregen, Abregen, Coolsein, zum Wüten und zum Trösten, zum Lernen, Studieren, Lehren, Forschen, Aufdecken, Einschätzen, Berichten und Sortieren, zum Putzen und zum Totschlagen der Zeit. #Covid19 offenbart die Fähigkeit des Mitteleuropäers, immer allen alles zu sein. Nur die Stille, die hat er sich abgewöhnt.
Schreiben war immer auch ein Instrument der Verarbeitung von Dingen, die einen Autor überfordern. Kommunikation therapiert. Man muss dazu nicht eigens Franz Kafka bemühen. Dessen “Prozess” beginnt bekanntlich mit “Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.” 2020 reicht es, in München auf einer Parkbank ein Buch zu lesen, um die ganze Skurrilität hyperaktiver Schutzmänner am eigenen Leib zu erfahren.
Lucky Luke und die Creatio Continua von Bürokraten
Ein besonderes Phänomen im #Lockdown sind Politiker, Journalisten oder A-, B- und C-Promis, Leute also, deren grundsätzliche Berufung es ist, anderen Menschen die Welt zu erklären. Und denen jetzt das Publikum fehlt. Oder die die Angst umhertreibt, mit sich selbst nicht fertig zu werden.
Sie kompensieren den Ausfall mit erhöhter Aktivität im Mitteilen. Ein Haubenkoch im Stiefelstaat knallt eine Sentenz nach der anderen ins Netz, um seine Verehrung für die Hamas zum Ausdruck zu bringen. Garniert mit offen antisemitischen Auslassungen. Der Typ hat fast 180.000 Twitter-Follower. Zukunftsforscher – was auch immer deren Berufung sein soll – erzählen uns in Interviews, warum sich mit und nach der Pandemie alles ändern wird. Und vielleicht doch alles bleibt wie es ist. Pasolini docet. Hobby-Kassandren erklären derweil, welcher Skandal oder welches Skandälchen das Land für immer verändern wird. Währenddessen servieren uns die Mächtigen täglich einen neuen Strauß an Gesetzen, Regeln und Beschlüssen. Mit bedeutungsschwangerer Miene und in Italien begleitet von andauernden Neufassungen entsprechend auszufüllender Formulare. Creatio Continua ist der theologische Begriff für diesen recht diesseitigen Aktivismus der Verwaltungsgötter. Lokalpolitiker garnieren den Salat zusätzlich mit eigenen Zutaten indem sie Maßnahmen interpretieren, erweitern oder auch nur loben. Ich lebe heute zwar in einer mittelgroßen Stadt, stamme aber ursprünglich aus der Provinz. In dieser verwandeln sich derzeit reihenweise kleingemeindliche Bürgermeister in eine Art “Lucky Luke”. Sie schießen schneller ein Photo als Dein Schatten auf eine Parkbank fallen kann. Mit moralinsaurer Buß-Predigt bist Du plötzlich Teil ihres Facebook-Instagram-Newsletter-Kreuzzuges. Und ein Gezüchtigter. Die trefflichste Beschreibung der Pandemie-Zeit stammt von einem italienischen Christdemokraten. Der hat zwar auf die eigene Regierung gezielt, aber wohl universal ins Schwarze getroffen. “Das einzig gelungene Screening der Regierungsmaßnahmen ist die psychische Katalogisierung der Italiener. In diesen Wochen erkennen wir die Unverantwortlichen, die Todängstlichen, die Hypochonder, die Phobiker, die für alles Unempfindlichen”, twittert er.
Beschimpfung können aber nicht nur die Zukurz-Gekommenen. Es funktioniert auch von “oben” nach “unten”. Die Bürger mögen sich “nicht wie Deppen oder Rechtsverdreher” gebaren, sagt der Kommandant der Gemeindepolizei von Bozen in einem Interview. Und er klingt, wie jener zornige Alte in der “Muppet Show”, dessen Bühne die Loge und dessen Stil die Schimpftirade ist. “Pubertierende werden wohl immer dazu neigen, archaische Muster aufzurufen, wenn sie die soziale Bühne besteigen“, schreibt die Publizistin Barbara Sichtermann in meinem Reclam-Heft[3]. Covid19 ist zu einer Bühne geworden, auf der wir wochenlang Spackos sein werden.
Theologie ist Wissenschaft über sich selbst
Ein Feld, das die #Coronakrise besonders augenscheinlich umpflügt, ist die Theologie. Pastoraltheologen legen neue Blogs an, Priester und Ordensleute erklären, was der #Lockdown mit Exerzitien zu tun hat. Sowohl katholische als auch evangelische Fakultäten – so scheint es – haben die digitale Welt als neuen Locus theologicus entdeckt. Ganz ökumenisch. Alles Gesagte oder Geschriebene aber hat Adressaten, an die es gerichtet ist, sodann eine Absicht, die es verfolgt und schließlich einen Kontext, aus dem heraus es formuliert wurde. Geisteswissenschafter wissen das. Und Exegeten auch. Bei manchem schimmert deutlich durch die Zeilen, dass sein Texten das Abarbeiten einer eigenen Wunschliste ist. Man könnte ja gleich zur antiken “Hauskirche” zurückkehren. Schreibt ein in Wien tätiger Pastoraltheologe. Seine Textabsicht ist klar: Mit #Covid19 soll die Kirche endlich zur priesterlosen Gemeinde werden. Nach nicht einmal 48 Stunden und erwartungsgemäß zahlreichen Reaktionen, rudert der Professor zurück: Alles nicht so gemeint gewesen.
Aber so blitzen tausend Brillen, so rinnt es aus tausend Exposés, tönt es aus tausend Reden, und das ist ihre Arbeit: Banalitäten aufzupusten wie Kinderballons. (Tucholsky)
Wer in eine x-beliebige Socialmedia-Plattform #DigitaleKirche eingibt, erhält eine Flut an Segenssprüchen, mutmachenden Wünschen oder ansprechenden Bibelzitaten. Theologietreibende (so die geschlechtergerechte Bezeichnung) sprechen am Häufigsten von sich selber. Was schon länger so ist, im #Lockdown offenbart es sich deutlicher. Ein südwestdeutscher Theologe, der sich selbst für maßgeblich hält, versteigt sich gar zu dem bemerkenswerten Satz: “Eine solche Epidemie wird durch die Medizin, durch medizinischen Fortschritt bekämpft, aber nicht durch ein Bittgebet.” Was auch niemand, der bei Trost ist, je behauptet hätte. Aber der Bestseller-Theologe ist für “Großen Streit” immer zu haben. Und so nimmt er jene Riesen halt an, die eigentlich nur Windmühlen sind. Womit er sich eine ebenso freundliche wie ernste Einladung des Wiener Erzbischofs einhandelt: Der deutsche Theologe möge doch bitte das 19. Jahrhundert hinter sich lassen. Glaube und Wissen gingen nicht gegeneinander auszuspielen. Sagt Christoph Kardinal Schönborn im Interview mit dem „Kurier“[4].
Die Textabsicht verändert unter Umständen die Aussage. Wenn der #Papst oder der Wiener Kardinal denselben Gedanken formulieren wie eine Primatenforscherin, dann verstehen die notorischen Christenskeptiker noch nicht dasselbe. Jane Goodall lässt kurz vor Ostern verlauten: “Unsere Missachtung der Natur und unsere Respektlosigkeit gegenüber den Tieren haben die Pandemie verursacht”. Über diese Kausalkette könnte man zwar noch streiten, aber im Grunde sagt die Umweltaktivistin nur, was in #QueridaAmazonia längst alle Gläubigen wissen sollten. Die eine wird wie eine Säulenheilige herumgereicht, bei den anderen orten die notablen Meinungsmacher ein „vormordernes Weltbild“. Man kann Tucholsky durchaus prophetische Begabung zuschreiben: Es geht darum, “Banalitäten aufzupusten wie die Kinderballons“. Schrieb er 1931[5].
#bleibtZuhause und #SeiRuhig
Wer gemeint hat, er versäume mit den Pandemie-Maßnahmen das halbe Leben, hat sich geirrt. Vor lauter Informationen, die wir haben sollten und solchen, die uns nur noch mehr verrückt machen, dreht uns auch im #Lockdown der Kopf. Home-Working, Home-Schooling, Home-Training, Home-Lessons, Home-Concert: Auch #bleibtZuhause oder #StayHome vermögen keine Entschleunigung. Die Welt hat sich schon viel zu weit entwickelt, als dass uns eine Pandemie zur Trautsamkeit eines bukolischen Landhauses verdonnern würde. Was für Boccaccio (Il Decamerone) gut war, ist für uns ein Märchen. “Nicht der Mangel, sondern der Überfluss an Informationen wird zu einem der größten Probleme der westlichen Zivilisation“[6], hat der Schriftsteller Friedrich Christian Delius vorhergesagt. Das war im Jahr 2001. Da gab es noch keine Smartphones oder Tablets.
Es ist eine Stille entstanden, ein Hinhören der Herzen, welches die wahrhaftigen Stimmen von den falschen Stimmen unterscheidet, die wahren Lichter von den künstlichen Lichtern. (Lepori)
In der aufkommenden technologischen Revolution sah Delius damals die Notwendigkeit zum “Informationsmanagement”. Das sich ein jeder anzueignen habe: “Die Fähigkeit zur Auswahl ist ein entscheidendes Kriterium für Bildung[7]“, meinte er. Das ist heute eine Binsenweisheit. Die Frage ist, wie sich Menschen diese Fähigkeit aneignen sollen. Der Trick liegt vermutlich darin, vom Mitteilen zum Hören umzuschalten.
“Nur in der Stille ertönen die seltenen Stimmen, die einem Herzen die Wahrheit zuflüstern”, sagt der Generalabt der Zisterzienser, Mauro Giuseppe Lepori, in einem langen Gespräch mit der italienischen Tageszeitung “Il Foglio”[8]. Lepori verweist auf den Papst, der vor dem leeren Petersplatz steht. Auf die vielen Kirchen, die jetzt leer bleiben: “Es ist eine Stille entstanden, ein Hinhören der Herzen, welches die wahrhaftigen Stimmen von den falschen Stimmen unterscheidet, die wahren Lichter von den künstlichen Lichtern.” Für mich der beste Gedanke, den ich während der Pandemie bisher gelesen habe. Einer jener Sätze, für die ich ein Buch gekauft hätte.
[1] Kellermann, Ralf: Der Essay. Texte und Materialien, Reclam 2012, Kurz: Reclam 15236
Eine Beobachtung der zeitgenössischen Diskussionskultur. Eine Notwendigkeit des zeitgenössischen Schreibens und der Wissenschaften generell ist es in einem bestehenden Raster zuordenbar zu sein. Dies ist dabei beileibe nichts Schlechtes, sondern ungemein hilfreich um einen Überblick zu erhalten, Ordnung zu bewahren
Eine Beobachtung der zeitgenössischen Diskussionskultur.
Eine Notwendigkeit des zeitgenössischen Schreibens und der Wissenschaften generell ist es in einem bestehenden Raster zuordenbar zu sein. Dies ist dabei beileibe nichts Schlechtes, sondern ungemein hilfreich um einen Überblick zu erhalten, Ordnung zu bewahren und auch verwandte Fragestellungen zu finden. Wie ordnet man sich aber in dieses Raster, dieses System ein? Vorweg, es gibt nicht ein System schlechthin und auch nicht ein Ordnungssystem. Im wissenschaftlichen Kontext verzweigt sich jede Disziplin, nach den ihr eigenen Maßgaben, welche als je sinnvoll erachtet wurden in Unterdisziplinen, Forschungsgebiete, Spezialfragen und so fort. Literarisch versucht man mit Zeitzuordnungen, Gattungsbegriffen, Autorenphasen und dergleichen mehr eine Ordnung in das beinahe unüberschaubare Konvolut an Werken und Schriften zu bringen. Gerade hier liegt aber schon eine Problematik. Die unzweifelhaft notwendige Zuordnung eines Einzelwerkes, sei es wissenschaftlich, literarisch oder einer beliebigen anderen Sparte angehörig, ist bereits eine Annäherung an die Auslegung und Bewertung desselben. Bereits in der im letzten Satz getroffenen Kategorisierung in literarisch oder wissenschaftlich, wird bei erfolgter Einordnung eine Perspektive auf einen konkreten Text beispielhaft festgelegt. Natürlich mag es wenig sinnvoll sein einen wissenschaftlich intendierten Beitrag unter literarischen Gesichtspunkten zu lesen, dennoch ist es möglich und in gewissen Fällen sogar bereichernd. Doch was soll mit dem aufbrechen dieser Problematik bezweckt werden? Soll die Offenheit von Texten gezeigt werden? Sollen bestehende Ordnungssystem in Zweifel gezogen werden? Nein, weder das eine noch das andere.
Vielmehr soll aufgezeigt werden, dass es ohne Einordnung gar nicht (mehr) geht. Dabei handelt es sich nicht nur um ein wissenschaftliches Unvermögen, sondern, so wage ich zu behaupten, um ein menschliches. Das Bedürfnis Elemente der Lebensrealität zu klassifizieren und zu ordnen würde ich als mensch-immanentes Bedürfnis betrachten. Weiters, so scheint es zumindest, ist es sogar, wie oben angedeutet, eine Notwendigkeit. Aus der Einordnung heraus werden neue Sinnzusammenhänge greifbar, neue Denkwege offenbar und neue Synergien zu Tage gefördert. So wenig überraschend das auch ist, so geht mit der Systematisierung auch eine Problematik einher. Denn wo neue Perspektiven eröffnet werden, so werden durch das klassifizieren auch andere Blickwinkel verunmöglicht. Dem versucht man beizukommen, in dem man eine Vielfalt an unterschiedlichen Einordnungen parallel zulässt und so ein breites Spektrum an möglichen und vor allem untereinander vermittelbaren Perspektiven offenhält. Für die Diskussion im Allgemeinen bedeutet das, dass man natürlich im Vorhinein den eigenen Zugangsweg darlegt, ansonsten kann man weder über die Sache, noch über die Näherungsweise an dieselbige diskutieren. Wesentlich ist dabei aber nicht, dass alle Parteien dieselbe Herangehensweise an den Diskussionsgegenstand haben, sondern lediglich, dass jeder die des Gegenübers kennt. Es mag ja durchaus sein, dass für einen konkreten Fall ein Zugang besser geeignet ist als ein anderer.
Problematisch erscheinen nun folgende Punkte: Einerseits besteht die Gefahr den Diskussionsgegenstand aus den Augen zu verlieren und sich unentwegt über unterschiedliche Zugänge zu streiten. Dabei verschiebt man dann die zu diskutierende Sache auf eine Zugangs- oder Methodenfrage, was natürlich legitim ist, aber dann auch klar als solche für alle Parteien klar sein muss.
Andererseits besteht die Gefahr, dass man aufgrund der Gewohnheit alles einzuordnen, zu katalogisieren und eben dahingehend mit einem Etikett zu versehen, den anderen, zumindest aber dessen Position ebenfalls zu etikettieren. Davon abgesehen, dass das wohl kaum dem Gegenüber wirklich gerecht werden kann, besteht die Gefahr, dass die Diskussion dadurch von jeglichem Inhalt entleert wird. Diese Etikettierungsprozesse sind nämlich nicht auf wenige konkrete Einzelne beschränkt, sondern vielmehr ein umfassendes Phänomen. Es ist durchaus denkbar, dass dieses durch den Anstieg der zu verarbeitenden Daten, die dem zeitgenössischen Menschen um die Ohren fliegen, ja, ihn sogar malträtieren können, geschuldet ist. In der Hoffnung nicht in einem Meer aus Information zu ertrinken, ordnet man die Datenflut in Pakete, etikettiert sie und evaluiert auf Basis des Etiketts, ob es wert ist, sich damit zu beschäftigen. Diese durchaus sinnvolle Herangehensweise ist als solche noch nicht problematisch, sondern scheint einfach Realität zu sein und notwendig um dieser beizukommen. Das Problem ergibt sich dann, wenn diese Strategie in abgewandelter Form in die Diskussion eingeht. Die Frage ist konkret: Nehme ich das Gegenüber, dessen Zugang und Argument in Hinsicht auf den Diskussionsgegenstand wahr, oder nur noch in Hinsicht auf das von mir (oder von anderen) vergebene Etikett? Denn wenn letzteres zutrifft, dann ist nicht nur die Diskussion als solche gegenstandslos, man könnte sogar fragen ob es sich überhaupt um eine Diskussion handelt, wenn es keine gemeinsame Basis gibt. Zusätzlich ist es die wohl umfassendste Geringschätzung des Gegenübers, wenn man es auf ein Etikett reduziert, auf das der betreffende zumeist nicht mal Einfluss nehmen kann. Für die Diskussion folgt aus der Gegenstandslosigkeit noch etwas: Sie wird beliebig, und damit sinnlos, sie hört schlicht auf im eigentlichen Sinne zu sein. Es wird vielmehr ein Gespräch, das keinen der Teilnehmenden bereichert, das keinen Mehrwert beinhaltet und das, so ist zu befürchten, lediglich die Etikettierungen durch das Unverständnis des Gegenübers verhärtet.
Was bleibt also? Bei aller Notwendigkeit Einzuordnen, zu katalogisieren und wohl auch zu etikettieren, darf eine Notwendigkeit nicht unter den Tisch fallen: Für die Diskussion ist es notwendig das Gegenüber vollumfänglich teilhaben zu lassen, nicht nur die eigene Meinung, das Etikett desselben.
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