Am 15. April 2025 jährt sich zum 80. Mal der Todestag von Kapistran Pieller und Angelus Steinwender. Die beiden Franziskaner wurden von Nationalsozialisten erschossen.
Kommende Woche jährt sich zum 80. Mal die Ermordung der zwei Franziskaner Kapistran Pieller ofm und Angelus Steinwender ofm. Mit über 40 anderen Gefangenen wurden die beiden Priester am 15. April 1945 in Stein an der Donau von Nationalsozialisten erschossen.
Die Erzdiözese Wien verweist auf das Schicksal der beiden Franziskaner und erinnert an sie als „hoffnungszeugen„. In der Franziskanerkirche Graz, einer der Wirkungsstätten von Kapistran Pieller, werden Mitbrüder, Gläubige und die Katholisch Österreichische Hochschulverbindung Carolina Graz am Dienstag, 15. April 2025 (16 Uhr) einen Gottesdienst für die beiden Opfer des nationalsozialistischen Terrors feiern. Im Anschluss an den Gottesdienst wird ihrer an der Gedenktafel (Siehe Bild) an der Franziskanergruft gedacht werden.
P. DDDr. Kapistran Pieller ofm (1891-1945)
Kapistran Pieller wurde am 30. September 1891 in Wien geboren und zunächst auf den Namen Wilhelm getauft. 1914 trat er in den Franziskanerorden ein und nahm den Ordensnamen Johannes Kapistran an. Am Franziskanergymnasium Hall holte er die Matura nach und studierte ab 1914 in Graz und Wien. 1918 wurde er zum Priester geweiht. Pieller promovierte 1927 in Staatswissenschaften und 1929 in Rechtswissenschaften an der Universität Graz. Sein Theologiestudium ergänzte er 1937 mit einer Promotion in Wien. Als Seelsorger wirkte er unter anderem in St. Pölten und Graz und betreute die katholische Hochschulverbindung Carolina Graz.
Nach dem Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland im Jahr 1938 engagierte sich Pieller in der Antifaschistischen Freiheitsbewegung Österreichs (AFÖ) und unterstützte den Widerstand gegen das nationalsozialistische Terror-Regime. Für die AFÖ verfasste und vervielfältigte er Flugblätter. Im August 1943 verhaftete ihn die GeStaPo in Eisenstadt. Der Volksgerichtshof in Wien verurteilte ihn im August 1944 zum Tode. Pieller blieb mehrere Monat in Wien in Haft. Kurz vor der Einrückung der Roten Armee überstellte die GeStaPo am 5. April über 40 Gefangene nach Stein an der Donau, wo sie am 15. April 1945 erschossen und in einem Massengrab vergraben wurden. Wenige Tage zuvor war es im Zuchthaus Stein zum berüchtigten Massaker mit mehreren Toten gekommen.
A.R.P. Angelus Steinwender ofm (1895-1945)
Angelus Steinwender ofm wurde 1895 in Maria Lankowitz (Bezirk Voitsberg) geboren und zunächst auf den Namen Eduard getauft. 1913 trat er in den Franziskanerorden ein und nahm den Ordensnamen Angelus an. 1920 wurde er in Wien zum Priester geweiht. Ab 1939 leitet er als Provinzialminister die Wiener Franziskanerprovinz zum hl. Bernhardin von Siena. Steinwender galt als Unterstützer des ermordeten Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß und kritisierte offen die nationalsozialistische Machtübernahme in Österreich.
Im Juli 1943 wurde Steinwender in Wien von der GeStapo verhaftet. Die Anklage warf ihm Unterstützung der AFÖ vor. Trotz geringer Beweislage wurde er zusammen mit Pieller und anderen Mitgliedern der AFÖ im August 1944 zum Tod verurteilt und am 15. April 1945 – nur wenige Tage vor dem deutschen Zusammenbruch am 8. Mai – in Stein an der Donau erschossen.
Der Apostel Paulus schreibt den Römern von der Hoffnung, welche die ganze Schöpfung erfüllt. Das ist ein Ziel, das der Mensch nicht machen kann, zu dem er aber beitragen kann. Als Pilger der Hoffnung. Fastenpredigt am 21. März 2025 in der Franziskanerkirche Graz.
Lesung: Röm 8,18-30
18 Ich bin nämlich überzeugt, dass die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll. 19 Denn die Schöpfung wartet sehnsüchtig auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes. 20 Gewiss, die Schöpfung ist der Nichtigkeit unterworfen, nicht aus eigenem Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat, auf Hoffnung hin: 21 Denn auch sie, die Schöpfung, soll von der Knechtschaft der Vergänglichkeit befreit werden zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes. 22 Denn wir wissen, dass die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt. 23 Aber nicht nur das, sondern auch wir, obwohl wir als Erstlingsgabe den Geist haben, auch wir seufzen in unserem Herzen und warten darauf, dass wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne offenbar werden. 24 Denn auf Hoffnung hin sind wir gerettet. Hoffnung aber, die man schon erfüllt sieht, ist keine Hoffnung. Denn wie kann man auf etwas hoffen, das man sieht? 25 Hoffen wir aber auf das, was wir nicht sehen, dann harren wir aus in Geduld. 26 So nimmt sich auch der Geist unserer Schwachheit an. Denn wir wissen nicht, was wir in rechter Weise beten sollen; der Geist selber tritt jedoch für uns ein mit unaussprechlichen Seufzern. 27 Der die Herzen erforscht, weiß, was die Absicht des Geistes ist. Denn er tritt so, wie Gott es will, für die Heiligen ein. 28 Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alles zum Guten gereicht, denen, die gemäß seinem Ratschluss berufen sind; 29 denn diejenigen, die er im Voraus erkannt hat, hat er auch im Voraus dazu bestimmt, an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilzuhaben, damit dieser der Erstgeborene unter vielen Brüdern sei. 30 Die er aber vorausbestimmt hat, die hat er auch berufen, und die er berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht; die er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht.
Hoffnung rettet Leben
Liebe Brüder & Schwestern, Wir können nicht sinnvoll über Hoffnung sprechen, ohne über „Hölle“ nachzudenken. Es ist wie bei den großen Filmstreifen: damit das Heldenhafte der Helden eindrücklicher erkennbar ist, verdeutlicht sich in der Geschichte zunächst eine schier unübersichtliche Menge an Gefahr, Rückschlägen oder Gewalt. Von der Hölle zu sprechen, zumal in einer Predigt, ist aus der Mode gekommen. In Zeitungen liest man zwar noch manchmal davon: als Redewendung oder literarischem Bild. Aber innerhalb der Kirche nicht. Grundsätzlich ist die Zurückhaltung angemessen: Zu oft in der Geschichte wurde mit Drohung von Höllenstrafen Schindluder getrieben, wurden eigene Absichten darin verpackt, indem man mit der jenseitigen Angst der Menschen ganz diesseitige Geschäfte zu machen versuchte. Zurecht sind wir heute vorsichtig mit dem Begriff der Hölle. Wir können aber auch feststellen: Ignorierendes Verschweigen ist vielleicht eine Spur zu vorsichtig. Denn wenn „Hölle“ der Zustand maximaler Ferne von Gott ist, ein Zustand der völligen Erstarrung im eigenen Ich bedeutet, dann ist sie nicht etwas, das eventuell als Strafe eintritt, wenn wir alle den Weg des Zeitlichen gegangen sein werden, sondern: Dann zeichnet sie sich vorher schon ab: im Handeln des Bösen; im Nichthandeln des Guten; im Erleben des Schrecklichen. In einem ländlichen Dorf eines europäischen Landes fliegen in den frühen Morgenstunden Dutzende Drohnen an und werfen Bomben ab. Kurz hernach rücken die Schergen der russischen Armee ein. Die Kämpfer erschießen Männer, vergewaltigen Frauen und entführen Kinder in das feindliche Russland: Was diese Kinder und viele andere Ukrainer erwartet, ist eine Vorahnung von Hölle.
Wenn der 35-jährige Jarden Bibas von blutrünstigen und frevlerischen Terroristen entführt wird, ein Jahr lang in unwürdigen Zuständen als Geisel gehalten und gefoltert wird; wenn er dann abgehungert vor einer johlenden Menge frei gelassen wird und erfährt, dass seine Frau Shiri längst vergewaltigt und ermordet wurde, genauso wie seine kleinen Kinder Kfir und Ariel: Dann können wir begründet davon ausgehen, dass sich der Abgrund, der sich im Innern dieses Mannes aufgetan hat, einem höllenartigen Zustand sehr ähnlich anfühlt. In einem europäischen Land steht ein Mensch vor dem Nichts. Er hat alles verloren hat oder sieht keine Perspektive mehr. Falls ein solcher Mensch unheilbar krank ist oder wenn sich einer in einer schier nicht bewältigbaren Verzweiflung befindet und dann beschließt, seinem Leben ein Ende zu setzen: Ist dieses existentielle alleingelassen-Sein nicht eine Vorahnung auf Hölle? „Ich bin nämlich überzeugt, dass die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll“ (Röm 8,18), schreibt Paulus und wir sollten uns davor hüten, mit diesem Satz ein einfaches Hinweglächeln des Schlechten und Bösen zu versuchen. Wir können einem Opfer von Vergewaltigungen, welches auch noch Jahre nach dem Verbrechen immer wieder einmal in die Erinnerung der erlittenen Gewalt verfällt, wir können einer Frau, die den schrecklichen Moment neu durchlebt, den Schmerz spürt, den Atem riecht oder die Stimmen hört, nicht sagen „die gegenwärtigen Leiden bedeuten nichts im Vergleich zur künftigen Herrlichkeit“. Wir sollten das nicht, und Paulus hätte es ziemlich sicher auch nicht getan: Er weiß von den menschlichen Abgründen und deren Tiefe: Der Völkerapostel, der selber Verfolger gewesen war, der selber Täter war, ist auch nach der Konversion ein Getriebener geblieben: Sein „Stachel im Fleisch“ (2 Kor 12,7) ist – was immer er damit genau beschreiben wollte – jedenfalls nichts, das man wegerklären könnte. Seine Enttäuschung über Verräter oder falsche Freunde auch nicht. Paulus ist Realist: Sein Verweis auf die gegenwärtige Zeit ist nicht Zynismus. Es ist ein In-Erinnerung-Rufen, dass nichts, auch kein Leid, endgültig ist. Das ist keine oberflächliche Relativierung des Leidens, das ist eine Relativierung der Endgültigkeit, der zeitlichen Dauer des Leidens.
Foto: Gustave Doré via Wikimedia Commons
Paulus ist jemand, der Zeit seines Lebens die Wiederkunft Christi erwartet hat. Von der Wiederkunft des Herrn sprechen wir heute auch nicht mehr so gerne, weil uns modernen Menschen das Konzept nicht in den Kopf geht. Oder es nicht auf der Tagesordnung steht. Die Welt ist dermaßen voller Schlechtigkeiten, dass man keinen guten Gott annehmen darf, der die Welt zu einem guten Ende vollendet. Insofern ist der moderne Mensch der Ansicht, die Menschen müssten nicht nur selbst für Befreiung und Gerechtigkeit sorgen, sondern auch eine vollendete Gerechtigkeit & Freiheit schaffen. Weltanschauungen, die die endgültige Freiheit und Gerechtigkeit versprechen, verleiten die Menschen zu maßlosen Übergriffigkeiten. Das haben wir spätestens im 20. Jahrhundert leidvoll gelernt.
Paulus hingegen dachte anders, über das hinaus, was der Mensch zu schaffen imstande ist: Der einzige endgültige Zustand für uns Christen ist die Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll. Das ist nicht beschönigend gemeint, denn Paulus ist Realist wie überhaupt jeder christlicher Glaube wesenhaft realistisch bzw. realitätsbezogen sein muss. Gottes Wort ist Mensch geworden (Joh 1,14), d.h. es ist Wirklichkeit geworden. Und dieser Mensch wurde auf unerträgliche Weise von anderen Menschen gefoltert und ist am Kreuz gestorben.
Was wir heute und die Christen in Rom von Paulus zu hören bekommen, ist also nicht eine Einladung an den einzelnen Gläubigen, sich das Leid oder auch das Unrecht schön zu reden. Mit seinem Rückgriff auf die Schöpfungsgeschichte sagt er den machtverwöhnten Römern nichts anderes, als dass ihr eigenes Reich endlich ist. Sogar das Weltreich hat keine absolute Geltung.
„Unsere Welt ist kein Dauerzustand“
Der moderne Mensch, auch der moderne Christ (manchmal) möchte es nicht unbedingt zu laut hören: Aber unsere Welt ist kein ewiger Dauerzustand. Die Wesen und Dinge, aus denen diese Welt gemacht sind oder die diese Welt strukturieren, sind vergänglich. Es ist nicht der Mensch, der durch fortschreitende Formen von Gerechtigkeit das Leid, das Böse, die ganze Gewalt abzuschaffen vermag. Gott und nur Gott wird die Herrlichkeit offenbaren. Wobei der gebildete Jude Paulus mit Herrlichkeit die ungefilterte Anschauung, das ungehinderte Hinsehen auf Gott meint. In einem einzigen Fall ist diese Herrlichkeit bereits zutage getreten und historisch fassbar, nämlich in Jesus von Nazareth. Seine Jünger bezeugen, dass durch göttliches Eingreifen Verwandlung geschieht, sie bezeugen die Auferstehung: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt und wir haben seine Herrlichkeit geschaut“ (Joh 1,14). Herrlichkeit ist also sozusagen die maximale Gottesnähe. Sie ist das Gegenteil von Hölle.
Eine Hoffnung auf einen gewandelten, sprich verherrlichten Zustand, dass alles, was Menschen in der Zwischenzeit getan oder unterlassen haben, was sie erfahren oder erlitten haben, im allgemeinen Strahlenkranz des Christus aufgeht. Der Zielpunkt unseres Daseins ist keine Reset-Taste, mit der die Schöpfung einfach neu gestartet würde, und danach halt auch jeder andere Mensch mit Adam & Eva durch den Garten läuft.
Eine Vollendung in Herrlichkeit ist gerecht und zwar umfänglich gerecht, wie Papst Benedikt XVI. in seiner Hoffnungs-Enzyklika darlegt: „Niemand und nichts bürgt dafür, dass nicht weiter der Zynismus der Macht, unter welche ideologischen Verbrämungen auch immer, die Welt beherrscht“ (Spe Salvi 42). Im menschlichen Anspruch der allgemeinen Welt-Rettung kommt der einzelne Mensch mit seinem Leid unter die Räder. Auch diese Einsicht gehört leider zum Realismus.
Wir müssen also schon davon ausgehen, dass die kosmologische Verheißung, die Paulus den Römern gegenüber darlegt, nicht nur eine von vielen Welterklärungen ist, sondern dass sie wiederum konkrete Auswirkungen auf den Einzelnen hat: Es ist im Großen und Ganzen eben nicht egal, wie es dem Kleinen und Unmündigen (Vgl. Mt 11,25) ergangen sein wird. Es ist nicht egal, ob jemand eine Mörderin, ein Dieb oder eine Lügnerin ist. Die Hoffnung auf eine vollendete Herrlichkeit ist auch die Hoffnung auf eine wirklich ausgleichende Gerechtigkeit. Wirklich ausgleichend ist sie nur, insofern sie eben nicht menschengemacht ist. An die Gerechtigkeit Gottes – das ist unbestrittener Konsens in allen Jahrtausenden jüdisch-christlicher Erfahrung – kann und wird kein menschliches Planen und keine menschliche Ideologie heranreichen, sei sie auch noch so ausgefeilt.
„Ein wirklicher Friede stellt sich zuallererst dem Leid entgegen“
Wir sehen das in diesen Monaten sehr deutlich vor Augen: „Frieden!“ tönt es von vielen Seiten in und an die Ukraine. Keine Waffen sollen geliefert werden, heißt es. Und das schnelle Wort vom Frieden löst eine gutgemeinte Sehnsucht aus. Die unerfüllt bleibt, insofern sie die Realität verdeckt. Die Alternative zu Waffenlieferungen ist nicht Friede. Die Alternative zu Waffenlieferung ist, dass Drohnen Dörfer bombardieren, Söldner Frauen vergewaltigen und kleine Kinder nach Russland verschleppt werden. Und zwar weiterhin. Ein wirklicher Friede geht über dieses Leid nicht hinweg. Ein wirklicher Friede stellt sich zuallererst diesem Leid entgegen.
Was wir Menschen trotz aller Anstrengung nicht auszugleichen vermögen, wird die göttliche Vollendung ausgleichen. Rettende Hoffnung ist also die Sehnsucht nach einem „Mehr“ als diese Welt und die Menschen, denen die Welt seit Anbeginn unterworfen ist, selber zu leisten vermag.
Vor diesem Hintergrund wird klar, dass das Gericht Gottes nicht eine Drohung sein soll. Das Gericht Gottes ist Gnade und Gerechtigkeit. Bloße Gnade würde in Gleichgültigkeit münden, ausschließliche Gerechtigkeit endet in einem inakzeptablen Zustande der Furcht. Das Gericht ist keine Drohung, das Gericht ist Reinigung. Und zwar eine Reinigung, die nicht erst eintritt, wenn man das Zeitliche gesegnet hat. Es ist eine Reinigung, die hier, in diesem Leben beginnt und derer jeder Mensch bedarf. Es kann Menschen geben, die in sich den Willen zu Wahrheit & Realismus und Absicht zur Liebe ausradiert haben. Das sind Menschen, die hauptsächlich durch und mit Lügen leben. Es sind Menschen, die nur mehr Hass empfinden. Das ist der einzige Zustand, in dem ein Mensch der Ansicht sein kann, dass er keinerlei Reinigung, keinerlei Umkehr, keinerlei μετάνοια bedarf (Vgl. Röm 2,4-5).
Die Annahme, dass es solche Menschen möglicherweise gibt, ist – denke ich – eine Alltagserfahrung. Solche Menschen kann es geben. „Das ist ein furchtbarer Gedanke, aber manche Gestalten gerade unserer Geschichte lassen solche Profile erkennen“, meint Benedikt XVI. (Spe Salvi 45) und stellt mit KKK 1033-1037 fest, dass ein solcher Zustand als „Hölle“ bezeichnet werden kann. Wir sind zurecht zurückhaltend mit der endgültigen Bewertung anderer Menschen, weil niemand von uns wirklich in jemand Anderen hineinschauen kann. „Der, der die Herzen erforscht“ (Röm 8,27) ist nur einer, nämlich Gott. Aber sollten wir nicht bei den Anzeichen dafür schon damit beginnen, dagegen anzurudern?
Der Zustand, in dem ein Leben mit Hass und Lüge, mit Leid und Gewalt verbrämt ist, ist ein unübersichtlicher Zustand. Das sind die „unaussprechlichen Seufzer“ (8,26), denen nur der Geist Gottes einen Sinn zu geben vermag. Besser wäre an dieser Bibelstelle eine eindeutig negativ besetzte Übersetzung gewesen. Dieses Wort στεναγμός ist ein unaussprechliches Stöhnen. Es gibt menschliche Dunkelheit, die wir nicht beschreiben können. Der Israeli Jarden Bibas wird überfallen, ein Jahr lang gefangen gehalten, dabei gequält und gefoltert. Und erst als er endlich freigelassen wird, erfährt er, dass jene, die er liebt, jene für die er gelebt hat längst dahingeschlachtet sind. Im Moment der Freilassung tut sich ein Abgrund auf, der dermaßen tief ist, dass keine menschlichen Worte mehr ausreichen. Jeder Versuch der Erklärung oder gar Relativierung muss als zynisch gewertet werden: Keine Politik, keine Maßnahme, auch kein Militärschlag rechtfertigt diese Morde.
Edvard Munch: Der Schrei, via Wikimedia Commons
Unser Generalminister, der Generalminister des Franziskanerordens hat am Josephi-Tag (25.3.2025) dazu aufgerufen, in diesem Jahr die anstehende Karfreitagskollekte – das ist die jährliche Spendensammlung für die Christen im Heiligen Land – besonders engagiert zu begleiten. Auf der Homepage des Ordens ist der Brief nachzulesen. Eine deutsche Arbeitsübersetzung findet sich auf der Homepage der Franziskanerprovinz Austria. Fr. Massimo Fusarelli warnt davor, dass der Krieg die christliche Präsenz im Heiligen Land auszulöschen droht. Er appelliert daran, dass die universale Weltkirche die Friedensarbeit der Franziskaner unterstützt. Und er sagt „Machen wir uns den Schrei der Christen zu eigen“. Eine Welt, die einem Hass versinkt, welcher jahrzehntelang gepflegt und gefördert worden ist, kann nicht einmal mehr schreien. Wir können den Appell ruhig erweitert verstehen. Es gilt für die Christen im Heiligen Land, es gilt für die verfolgten Christen überall auf der Welt, aber es gilt auch über die Christen hinaus für Menschen wie Jarden Bibas: Die erste Form der Solidarität ist, dass wir dem unaussprechlichen Stöhnen eine Stimme geben. Dass wir uns den Schrei der Gequälten zu eigen machen.
„Die er [Gott] aber vorausbestimmt hat, die hat er auch berufen, und die er berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht; die er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht“ (Röm 8,30). Liebe Sr. & Br., als ich das erste Mal diesen Satz gelesen habe, kam mir unwillkürlich die Frage, ob es denn auch welche gibt, die mit diesem Satz nicht gemeint sind. Ob Paulus Menschen kennt, die eventuell aus dem Heilsplan hinausgefallen sind. Und wer diese Menschen eventuell sind. Natürlich ist so etwas nicht gemeint. Der Völkerapostel wäre wohl der Allerletzte gewesen, der davon ausginge, dass Gott jemanden erschafft, den er dann a priori zugrunde gehen lässt. Das Entscheidende ist diese Verkettung der Handlungen Gottes. Die Christen, also jene, die sich zu Christus bekennen, die auf Christus getauft sind, gehören zusammen. Benedikt XVI. meint „Keiner lebt allein.“ „Keiner sündigt allein.“ „Unsere Leben interagieren miteinander.“ (Spe Salvi 48) Und Paulus hängt diese Kette jetzt direkt an Gott an (Vgl. Röm 14,7). Wir bilden nicht nur eine Gemeinschaft untereinander. Wir bilden auch eine Gemeinschaft mit Gott. Und das hat wiederum Auswirkungen auf den Einzelnen.
„Vorausbestimmt“ heißt „gottgewollt“. Nicht alles, was ich bin oder gar tue und unterlasse, ist gottgewollt. Aber mein Dasein ist es. Und das bedeutet: Niemand vegetiert allein. Existentielle Verlassenheit ist einer der größeren Abgründe unserer Zeit. Wir müssen nicht in die Ukraine oder nach Nahost fahren, um diesen Abgrund zu finden. Die Verzweifelten, die, die keine Perspektive mehr haben und deswegen ihr Dasein aufgeben – die finden wir vor unserer Haustür zu Genüge. So wie der reiche Mann im Bildwort Jesu, den armen Lazarus gefunden hätte, wenn er auch nur einmal hingeschaut hätte (Vgl. Lk 16,19-31). Die existentielle Einsamkeit entsteht im Leid und sie erfasst nach und nach den ganzen Menschen, der Leid erfahren hat. Die vieldiskutierte Euthanasie ist nur das letzte Siegel der existentiellen Vereinsamung. Es ist eine Vereinsamung, die unserem Paulus widerspricht: „Du bist nicht vorausbestimmt“, „du bist nicht gottgewollt“, „niemand mag oder sieht dich“.
„Hoffnung schenken bedeutet, Möglichkeiten zu suchen, dass ein Mensch im Abgrund Ja sagen lernt zu sich selbst.“
Ich habe das erlebt, wie es ist, mit einem Menschen, der nach der Erfahrung schwerer Gewalt mit sog. Flashbacks kämpft. Ich habe erlebt, wie es ist, mit einer Frau über den Münchner Marienplatz zu gehen, eben noch über Moden gesprochen zu haben und sie dann scheinbar grundlos – getriggert von einem Geruch – zu verlieren. Mitten im Gespräch wurden die Sätze weniger. Dann wurden ihre Sätze unverständlich. Die Augen matt und abwesend. Abseits der Menschenmassen sind wir im leeren Alten Hof auf einer Parkbank gesessen und ich konnte nur zugesehen. Übrig blieb ein Wimmern. Unerreichbar für mich. In sich gefangen im neu Durchleben des längst Vergangenen. Mir blieb nur übrig, ohnmächtig zu warten: 5 Minuten, 15 Minuten, 27 Minuten. Dann wurde die Frau wieder ansprechbar. Seither weiß ich, was Paulus meint mit dem unaussprechlichen Stöhnen. In solchen Momenten – so sagt die Frau – fehlt Dir jede Begründung dafür, dass Du existierst. Dass Du da bist. Einer solchen Frau, liebe Br. & Sr., kann man nicht einfach sagen, die Leiden der gegenwärtigen Zeit bedeuten nichts im Vergleich zur Herrlichkeit, die offenbar werden soll. Aber wenn wir Hoffnung geben wollen, dann sollten wir Wege suchen, solchen Menschen ein Licht zu schenken. Hoffnung ist das Ja-sagen zur eigenen Existenz. Und da haben wir jetzt, wenn wir so wollen, einen moralischen Imperativ aus unserer Römerbrief-Stelle, der uns Christen wirklich aufgetragen ist: Hoffnung schenken bedeutet, Möglichkeiten zu suchen, dass ein Mensch im Abgrund Ja sagen lernt zu sich selbst. Hoffnung schenken heißt, niemanden in der existentiellen Einsamkeit zurückzulassen und uns den Schrei der Gequälten zu eigen zu machen. Hoffnung schenken heißt zu bezeugen, dass es eine größere Gerechtigkeit gibt als Menschen selber zu leisten vermögen. Das alles rettet unter Umständen Leben. Es bedeutet, „Pilger der Hoffnung“ zu sein. Amen. (mtz)
Inwiefern die biblische Königin Esther ziemlich gut in unsere Zeit passen würde: Glaube lässt sich nicht aberziehen. Gedanken zu Est 4,17k-7. (k) Auch die Königin Ester wurde von Todesangst ergriffen und suchte Zuflucht beim Herrn. Sie legte ihre prächtigen Gewänder ab
Inwiefern die biblische Königin Esther ziemlich gut in unsere Zeit passen würde: Glaube lässt sich nicht aberziehen. Gedanken zu Est 4,17k-7.
(k) Auch die Königin Ester wurde von Todesangst ergriffen und suchte Zuflucht beim Herrn. Sie legte ihre prächtigen Gewänder ab und zog die Kleider der Notzeit und Trauer an. Statt der kostbaren Salben tat sie Asche und Staub auf ihr Haupt, vernachlässigte ihren Körper, und wo sie sonst ihren prunkvollen Schmuck trug, hingen jetzt ihre Haare in Strähnen herab. Und sie betete zum Herrn, dem Gott Israels: (l) Mein Herr, unser König, du bist der Alleinzige. Hilf mir! Denn ich bin hier einzig und allein und habe keinen Helfer außer dir; die Gefahr steht greifbar vor mir.
(m) Von Kindheit an habe ich in meiner Familie und meinem Stamm gehört, dass du, Herr, Israel aus allen Völkern erwählt hast; du hast dir unsere Väter aus allen ihren Vorfahren als deinen ewigen Erbbesitz ausgesucht und hast an ihnen gehandelt, wie du es versprochen hattest. (n) Wir aber haben uns gegen dich verfehlt und du hast uns unseren Feinden ausgeliefert, weil wir ihre Götter verehrt haben. Du bist gerecht, Herr. (o) Jetzt aber ist es unseren Feinden nicht mehr genug, uns grausam zu unterjochen, sondern sie haben ihre Hände zum Schwur auf die Hände ihrer Götterbilder gelegt, dein Versprechen zu vereiteln, deinen Erbbesitz zu vernichten, den Mund derer, die dich loben, verstummen zu lassen und das Licht deines Tempels und das Feuer auf deinem Altar auszulöschen. (p) Stattdessen wollen sie den Heiden den Mund öffnen, damit sie ihre nichtigen Götzen preisen und auf ewige Zeiten einen sterblichen König verherrlichen. (q) Überlass dein Zepter, Herr, nicht den nichtigen Götzen! Man soll nicht höhnisch über unseren Sturz lachen. Lass ihre Pläne sich gegen sie selbst kehren; den aber, der all das gegen uns veranlasst hat, mach zum warnenden Beispiel! (r) Denk an uns, Herr! Offenbare dich in der Zeit unserer Not und gib mir Mut, König der Götter und Herrscher über alle Mächte! (s) Leg mir in Gegenwart des Löwen die passenden Worte in den Mund und stimm sein Herz um, damit er unseren Feind hasst und ihn und seine Gesinnungsgenossen vernichtet! (t) Uns aber rette mit deiner Hand! Hilf mir, denn ich bin allein und habe niemand außer dir, o Herr!
(u) Du kennst alles. Du weißt auch, dass ich den Prunk der Heiden hasse und das Bett eines Unbeschnittenen und Fremden verabscheue. (v) Du weißt, dass ich das Zeichen meiner Würde verabscheue und es an den Tagen meines öffentlichen Auftretens nur unter Zwang auf dem Kopf trage. (w) Ich verabscheue es wie die Tücher zur Zeit meiner Regel und trage es nicht an den Tagen, an denen ich meine Ruhe habe. (x) Deine Magd hat nicht am Tisch Hamans gegessen, ich habe keinem königlichen Gelage durch meine Anwesenheit Glanz verliehen und habe keinen Opferwein getrunken. (y) Seit deine Magd hierherkam, bist du für sie der einzige Grund, sich zu freuen, Herr, du Gott Abrahams. (z) Gott, du hast Macht über alle: Erhöre das Flehen der Verzweifelten und befrei uns aus der Hand der Bösen! Befrei mich von meinen Ängsten!
Esther soll niemanden merken lassen, wo sie herkommt.
Die Geschichte von Königin Esther könnte die Geschichte vieler junger Menschen im 21. Jahrhundert sein: Als ganz junger Frau werden ihr Identität und Glaube sozusagen „aberzogen“: Sie soll den Glauben nicht zeigen, sie soll niemanden merken lassen, woher sie kommt. Sagt ausgerechnet ihr Vormund, der fromme Jude Mordechai, der Beamter am heidnischen Hof ist. Er will, dass die junge Frau Karriere macht und Ansehen gewinnt, dass sie Königin wird. Das wird sie auch, und sie fügt sich in ein durch und durch säkulares Machtgefüge am Hof des Artaxerxes ein. Und als der säkulare Staat im Antisemitismus versinkt, ist es dann aber wieder Mordechai, der plötzlich möchte, dass sich Esther bekennt und eingreift. Das ist gefährlich: Eine solche Einmischung könnte die Königin das Leben kosten. Sie muss abwägen: Versucht sie den mordlüsternden Antisemiten aufzuhalten oder schaut sie auf das, was sie sich erarbeitet hat?
Sie entscheidet sich für den gefährlichen Rettungsversuch: das ist die Notlage, die „Todesangst“ (Est 4,17k). Das biblische Buch kommt ohne Gott aus. Er wird nicht genannt und tritt nie auf: Die beiden Gebete von Esther (Est 4,17k-z) und zuvor jenes von Mordechai (Est 4,17a-i) sind griechische Einschübe, aber obschon es die hebräische Vorlage nicht ausdrücklich beschreibt, ist auch dort die Haltung der Frau eine betende. Was in jedem Fall klar ist: Angesichts der Frage nach der eigenen Existenz bricht die Beziehung zu Gott auf: „Ich bin allein und habe niemand außer dir, oh Herr“ (Est 4,17t). Dieses Vertrauen kann sie eigentlich gar nicht haben, wenn man ihre Lebensgeschichte bedenkt. Sie hat nie erfahren, dass Gott jemand ist, der einen beschützt. Ihre Welt besteht aus den Götzen einer säkularen Königsherrschaft, in der Schönheit, Machtspiel und zwischenmenschliche Taktik gefragt sind.
Glaube an Gott hängt nicht von der Frage ab, ob er tradiert wird.
Wie in modernen Ländern unserer Zeit, in denen beispielsweise das Christentum für Generationen als überholt aberzogen wurde. Königin Esther ist ein Beispiel, dass der Glaube an Gott nicht zwingend davon abhängt, ob er tradiert und gepflegt wird. Gott ist da, auch wenn er jahrelang nicht angesprochen wurde, wenn er dauerhaft nicht gepriesen wurde, wenn die Menschen seinen Namen nicht mehr aussprechen. Er ist das und ein Mensch weiß, dass er da ist.
Jetzt kann man sagen, dass das ein altes Muster ist: In Todesangst klammern sich die Menschen an gute Geschichten: Aber das Gebet der Esther verdeutlicht, dass sie sich nicht an irgendeine Religion klammert. Denn diese „gute Geschichte“ kann sie gar nicht mehr glauben. Sie wurde ihr ja aberzogen. Esther betet, weil der Anruf von Gott, das Wiederaufnehmen einer Beziehung offensichtlich existentiell ist: „Du bist der Einzige“ (4,17l) und man hört das Glaubensbekenntnis aus Dtn 6 heraus: Der Gott Israels ist nicht einer der vielen Götzen. Er ist keine Trostgeschichte. Er ist der einzige Gott.
Merkmal des jüdischen Gottes ist es, dass nicht die Menschen ihn gnädig stimmen, sondern dass er sich den Menschen verpflichtet hat.
Du hast Israel aus allen Völkern erwählt (4,17m) und „als deinen Erbbesitz ausgesucht“ (4,17m): Das Alleinstellungsmerkmal des jüdischen Gottes ist, dass nicht die Menschen ihn anbeten und gnädig stimmen, sondern dass er sich den Menschen verpflichtet hat. Abraham hatte das erfahren. Es ist die Erfahrung von Jona. Und für uns Christen ist es letztlich Christus am Kreuz. Diese Selbstverpflichtung Gottes fordert Esther in ihrem Appell nun ein. Sie tut das im unerklärbaren Vertrauen darauf, dass er nicht nur irgendwie da ist oder dass nicht nur irgendwie alles einen Sinn hat, sondern dass ihr dieser Gott konkret in der spezifischen Situation hilft: dass er ihr den Mut gibt (4,17r) und die passenden Worte (4,17s), um vor dem weltlichen Herrscher zu bestehen. Er soll quasi ihre Rede schreiben. Königin Esther führt uns vor Augen, dass auch der heidnische Großkönig, der gottgleiche Machthaber im Grunde unter dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs steht. Das ist der Sinn dieses Gebetes.
Gläubige Menschen brauchen vor allen Säkularisierungsthesen nicht zu resignieren: In Christus ist dieser Gott Mensch geworden. Gott hat sich mit dem Kreuzesopfer selbst verpflichtet, jene, die zu ihm gehören, nicht zugrunde gehen zu lassen. Das ist ein unerschütterlicher Bundesschluss. Das ist der Grund, warum wir beten und warum wir darauf vertrauen, dass wir von Gott, der gut ist, erhört werden (Vgl. Mt 7,11).
Die Kirchenzeitung der Diözese Bozen-Brixen hat einen Fragebogen gestellt. 7 Antworten, die das Denken eines Menschen beschreiben (sollen). Credits: Katholische Sonntagsblatt. Kirchenzeitung der Diözese Bozen-Brixen. Ausgabe Nr. 10 (9. März 2025).
Das sogenannte San-Damiano-Kreuz steht wie kaum ein anderes Symbol für Franz von Assisi (1181-1226) und seine Bewegung. Der Überlieferung nach soll von Franziskus an der verfallenen Kirche vor dem Kreuz gebetet und von dorther eine Stimme vernommen haben, die ihm
Das sogenannte San-Damiano-Kreuz steht wie kaum ein anderes Symbol für Franz von Assisi (1181-1226) und seine Bewegung.
Der Überlieferung nach soll von Franziskus an der verfallenen Kirche vor dem Kreuz gebetet und von dorther eine Stimme vernommen haben, die ihm zurief: „Geh, Franziskus, und baue mein Haus wieder auf, das – wie du siehst – in Trümmer fällt!“ (Gef 13; 2Cel 10). Die Kreuzikone, die heute millionenfach reproduziert wird, ist etwa 2 Meter hoch, stammt aus dem beginnenden 12. Jahrhundert und byzantinischen Stil gefertigt, der damals vermutlich durch serbische Mönche auch in Italien Verbreitung gefunden hat. Der Künstler ist unbekannt, dürfte sich aber unterhalb des linken Armes Christi selbst dargestellt haben. Das originale San-Damiano-Kreuz ist mit der Übersiedlung der Klarissen in das Stadtkloster Santa Chiara gebracht worden, wo es in der sogenannten Kreuzkapelle zu sehen ist. In San Damiano befindet sich eine Kopie.
San-Damiano-Kreuz, Via Wikimedia Commons
Der Gekreuzigte ist als Christus triumphans dargestellt, der den Tod bereits besiegt zu haben scheint. Darauf weist auch die Aureola hin. Unter dem Kreuz stehen Maria, die Mutter Jesu und der Apostel Johannes (rechts des Gekreuzigten) sowie Maria von Magdala, die Frau des Klopas und jener römische Hauptmann, der in Mk 15,39 die Gottessohnschaft bezeugt (links). Kleiner dargestellt sind jener Soldat, der dem Sterbenden Essig gereicht hatte (rechts) und Longinus, der Soldat, der mit seiner Lanze Jesus das Herz durchbohrt hat. Der obere Teil der Kreuzikone zeigt den Auferstandenen, wie er sich der Hand Gottes nähert. Mehr dazu: Bollati, Milvia: Francesco e la croce di S. Damiano, Biblioteca Francescana, Mailand 2016.
Mit der Kreuz-Ikone von San Damiano untrennbar verbunden ist ein Gebet des heiligen Franziskus, das aus der Zeit seiner Bekehrung stammt. Das Gebet hat einige Anklänge an Psalmen (z.B. Ps 118,34) und erwähnt wie Paulus (vgl. 1 Kor 13,13; 1 Thess 1,3) die drei göttlichen Tugenden Glaube, Hoffnung, Liebe. Es ist eine Bitte um Offenheit sowohl für den Heilsplan Gottes als auch für die Not des Nächsten. Die deutsche Fassung unten folgt der grundlegenden Quellen-Edition von Berg, Dieter (Hg.) / Lehmann, Leonhard (Hg.): Franziskus-Quellen. Die Schriften des heiligen Franziskus, Lebensbeschreibungen, Chroniken und Zeugnisse über ihn und seinen Orden, Butzon und Bercker 2009.
Höchster, glorreicher Gott, erleuchte die Finsternis meines Herzens und schenke mir rechten Glauben, sichere Hoffnung und vollkommene Liebe. Gib mir, Herr, [das rechte] Empfinden und Erkennen, damit ich deinen heiligen und wahrhaften Auftrag erfülle.
Genesis 4,1-15.25 1 Adam erkannte Eva, seine Frau;sie wurde schwanger und gebar Kain.Da sagte sie: Ich habe einen Mann vom Herrn erworben.2 Sie gebar ein zweites Mal,nämlich Abel, seinen Bruder.Abel wurde Schafhirtund Kain Ackerbauer.3 Nach einiger Zeit brachte Kaindem Herrn eine Gabe von den
1 Adam erkannte Eva, seine Frau; sie wurde schwanger und gebar Kain. Da sagte sie: Ich habe einen Mann vom Herrn erworben. 2 Sie gebar ein zweites Mal, nämlich Abel, seinen Bruder. Abel wurde Schafhirt und Kain Ackerbauer. 3 Nach einiger Zeit brachte Kain dem Herrn eine Gabe von den Früchten des Erdbodens dar; 4 auch Abel brachte eine dar von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Der Herr schaute auf Abel und seine Gabe, 5 aber auf Kain und seine Gabe schaute er nicht. Da überlief es Kain ganz heiß und sein Blick senkte sich. 6 Der Herr sprach zu Kain: Warum überläuft es dich heiß und warum senkt sich dein Blick? 7 Ist es nicht so: Wenn du gut handelst, darfst du aufblicken; wenn du nicht gut handelst, lauert an der Tür die Sünde. Sie hat Verlangen nach dir, doch du sollst über sie herrschen. 8 Da redete Kain mit Abel, seinem Bruder. Als sie auf dem Feld waren, erhob sich Kain gegen Abel, seinen Bruder, und tötete ihn. 9 Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist Abel, dein Bruder? Er entgegnete: Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders? 10 Der Herr sprach: Was hast du getan? Das Blut deines Bruders erhebt seine Stimme und schreit zu mir vom Erdboden. 11 So bist du jetzt verflucht, verbannt vom Erdboden, der seinen Mund aufgesperrt hat, um aus deiner Hand das Blut deines Bruders aufzunehmen. 12 Wenn du den Erdboden bearbeitest, wird er dir keinen Ertrag mehr bringen. Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein. 13 Kain antwortete dem Herrn: Zu groß ist meine Schuld, als dass ich sie tragen könnte. 14 Siehe, du hast mich heute vom Erdboden vertrieben und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen; rastlos und ruhelos werde ich auf der Erde sein und jeder, der mich findet, wird mich töten. 15 Der Herr aber sprach zu ihm: Darum soll jeder, der Kain tötet, siebenfacher Rache verfallen. Darauf machte der Herr dem Kain ein Zeichen, damit ihn keiner erschlage, der ihn finde. 25 Adam erkannte noch einmal seine Frau. Sie gebar einen Sohn und gab ihm den Namen Set, Setzling. Denn sie sagte: Gott setzte mir einen anderen Nachkommen anstelle Abels, weil Kain ihn getötet hat.
Der seraphische Vater Franziskus, also unser Ordensgründer, ermahnt die Brüder einmal: „Wer immer also seinen Bruder um des Guten willen beneidet, das der Herr in ihm redet und wirkt, der zielt ab auf die Sünde der Gotteslästerung, weil er den Allerhöchsten selbst beneidet, der jegliches Gute redet und wirkt“ (Erm 8). Das ist eine zunächst bemerkenswerte Überlegung, die einen auch ein bisschen ernüchtert: Wenn etwas Gutes geschieht, wenn jemand etwas tut, das gut ist, dann ist es nicht der betreffende Mensch, der es tut, sondern Gott. Franziskus schreibt alles Gute dem Allmächtigen zu und alles Ungute sich selbst. Teilt man diesen Grundsatz einmal, dann wird klar, dass der Neid – auch in seinen kleinen Formen – eine Art Beleidigung Gottes ist.
Das Problem des Kain scheint genau dasselbe zu sein: Er sieht in Abel einen Bevorzugten. Und dieses Gefühl breitet sich in ihm aus. Es nimmt von ihm Besitz. Nach und nach wächst es an bis es ihn ganz erfasst. Folge: Gottesferne. Die Keniter – Abkömmlinge von Kain – sehen JHWH nur mehr von der Ferne. Immerhin sehen sie ihn noch. Kain wird nicht ausgelöscht.
Etwas gut sein lassen zu können ist das Mindeste, das wir alle tun können.
Wir Christen sollten uns nicht zu sicher fühlen: Emotionen oder Haltungen, die uns erfassen und uns irgendwann ganz einnehmen, gibt es bis heute in allen Menschen. Der entscheidende Punkt ist, ob wir im anderen Menschen – gläubig oder nicht gläubig – auch das Gute wahrnehmen und es gut sein lassen können. Zwischendurch etwas gut sein lassen zu können, ist die Mindeststufe an Leistung, zu der wir alle fähig sein sollten. Jeder Mensch tut irgendwo irgendetwas, das gut ist. Und es ist eigentlich Gott, der es durch diesen Menschen bewirkt. (mtz)
Der „Sonnengesang“ des seraphischen Franziskus wird 800 Jahre alt. Es ist eines der ältesten schriftlichen Zeugnisse der italienischen Sprache und gleichzeitig einer der meist verarbeiteten Texte der Weltliteratur. Die deutsche Fassung. Der „Cantico delle Creature“ ist das bekannteste Lied oder
Der „Sonnengesang“ des seraphischen Franziskus wird 800 Jahre alt. Es ist eines der ältesten schriftlichen Zeugnisse der italienischen Sprache und gleichzeitig einer der meist verarbeiteten Texte der Weltliteratur. Die deutsche Fassung.
Der „Cantico delle Creature“ ist das bekannteste Lied oder Gebet, das von Franz von Assisi (1181-1226) selbst stammt. Der Ordensgründer soll es 1225 verfasst haben, als er selbst in San Damiano krank im Bett lag. Der jubelnde Hymnus stellt eine Antwort auf die Erfahrung von Schmerz und Schwäche dar. Einigen Biographen zufolge fügte Franziskus die Friedensstrophe später hinzu, um einen Streit zwischen dem Bischof und dem Bürgermeister von Assisi zu schlichten. Eine später erfolgte Erweiterung ist auch die Strophe über „Schwester Tod“, die er verfasst haben soll, als er selber ein Jahr später dem Sterben nahe war (Per 7; SP 123). Das Gebet ist nicht nur eine Hymne auf Gottes gute Schöpfung, sondern fordert eine positive Hinwendung zur Welt und eine Annahme von Krankheit und Tod. Die deutsche Fassung unten folgt der grundlegenden Quellen-Edition Berg, Dieter / Lehmann, Leonhard: Franziskus-Quellen. Die Schriften des heiligen Franziskus, Lebensbeschreibungen, Chroniken und Zeugnisse über ihn und seinen Orden, Butzon & Bercker 2009.
1Höchster, allmächtiger, guter Herr,
dein sind das Lob, die Herrlichkeit und Ehre und jeglicher Segen.
Dir allein, Höchster, gebühren sie,
und kein Mensch ist würdig, dich zu nennen.
2Gelobt seist du, mein Herr,
mit allen deinen Geschöpfen,
zumal dem Herrn Bruder Sonne,
welcher der Tag ist und durch den du uns leuchtest.
Und schön ist er und strahlend mit großem Glanz:
Von dir, Höchster, ein Sinnbild.
3Gelobt seist du, mein Herr,
durch Schwester Mond und die Sterne;
am Himmel hast du sie gebildet,
klar und kostbar und schön.
4Gelobt seist du, mein Herr,
durch Bruder Wind und durch Luft und Wolken
und heiteres und jegliches Wetter,
durch das du deinen Geschöpfen Unterhalt gibst.
5Gelobt seist du, mein Herr,
durch Schwester Wasser,
gar nützlich ist es und demütig und kostbar und keusch.
6Gelobt seist du, mein Herr,
durch Bruder Feuer,
durch das du die Nacht erleuchtest;
und schön ist es und fröhlich und kraftvoll und stark.
7Gelobt seist du, mein Herr,
durch unsere Schwester, Mutter Erde,
die uns erhält und lenkt
und vielfältige Früchte hervorbringt
und bunte Blumen und Kräuter.
8Gelobt seist du, mein Herr,
durch jene, die verzeihen um deiner Liebe willen
und Krankheit ertragen und Drangsal.
Selig jene, die solches ertragen in Frieden,
denn von dir, Höchster, werden sie gekrönt.
9Gelobt seist du, mein Herr,
durch unsere Schwester, den leiblichen Tod;
ihm kann kein Mensch lebend entrinnen.
Wehe jenen, die in tödlicher Sünde sterben.
Selig jene, die er findet in deinem heiligsten Willen,
Selbst der Messias wird von Johannes im Jordan getauft. Das hat Auswirkungen bis heute. Es ist die Tür, durch die alle Menschen eintreten können. Lk 3,15-16.21-22 In jener Zeit15 war das Volk voll Erwartungund alle überlegten im Herzen,ob Johannes nicht
Selbst der Messias wird von Johannes im Jordan getauft. Das hat Auswirkungen bis heute. Es ist die Tür, durch die alle Menschen eintreten können.
Lk 3,15-16.21-22
In jener Zeit 15 war das Volk voll Erwartung und alle überlegten im Herzen, ob Johannes nicht vielleicht selbst der Christus sei. 16 Doch Johannes gab ihnen allen zur Antwort: Ich taufe euch mit Wasser. Es kommt aber einer, der stärker ist als ich, und ich bin es nicht wert, ihm die Riemen der Sandalen zu lösen. Er wird euch mit dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen. 21 Es geschah aber, dass sich zusammen mit dem ganzen Volk auch Jesus taufen ließ. Und während er betete, öffnete sich der Himmel 22 und der Heilige Geist kam sichtbar in Gestalt einer Taube auf ihn herab und eine Stimme aus dem Himmel sprach: Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden.
Für die Menschen der Antike war es eigentlich nie wichtig, wo eine Persönlichkeit geboren wurde oder wie sie aufgewachsen ist. Die Umstände von Kindheit und Jugend hat die Menschen schlicht nicht interessiert. Jesus von Nazareth, dessen Kindheitsgeschichten wir über Weihnachten gehört haben, oder der Täufer Johannes sind da eine immer schon Ausnahmen gewesen. Nicht-christliche Ausnahmen sind Kaiser Augustus, einige ägyptische Pharaonen oder mythologische Figuren wie die Stadtgöttin Athene.
Was die Menschen der Antike wirklich interessierte, war der Anfangspunkt des eigenständigen Wirkens in der Öffentlichkeit. Denn diese Anfangspunkte erzählen meistens über die Vorzeichen, unter denen ein Lebenswerk zu verstehen war. Momente des Anfangs erzählen dem Publikum, „wes Geistes Kind“ eine Persönlichkeit war. Wir können also sagen, mit der Taufe Jesu feiern Christen eine zweite Erscheinung des Herrn. Als Christen mit dem Blick zurück wissen wir natürlich von der Bedeutung der Geburt und den Umständen der ersten Lebensjahre. Aber mit der Taufe im Jordan wird es ernst: Die rund 30 Jahre, in denen das Wort Gottes unbemerkt in einem einfachen Haushalt in Nazareth gelebt hatte, sind vorbei: Der erwachsene Mann entscheidet sich dafür, sich einer bestimmten Reformbewegung anzuschließen – der Bewegung um den Täufer Johannes – und als sein erstes öffentliches Wirken macht er etwas Bemerkenswertes: Er stellt sich in eine Warteschlange.
Jesus wartet und betet
Das ist aus zwei Gründen bedeutsam: Erstens präsentiert sich Jesus als eine Art Gegensatz zu den gewöhnlichen Herrschergestalten. Kein Herrscher wartet bei seinem Antritt auf irgendjemanden. Meist ist es umgekehrt: Tritt beispielsweise in Rom ein neuer Kaiser an, dann sind es Senatoren und Leute aus dem Volk, von denen erzählt wird, wie sie warten bis der neue Imperator auftritt. Jesus, der eigentliche Weltenherrscher, den der Täufer ankündigt (Mit Feuertaufe beschreibt Johannes das Endgericht, vgl. Lk 3,16) ist anders: Er wartet. Und wir können mit vielen Exegeten annehmen: Jesus betet hier.
Dieses betende Warten Jesu ist aus einem zweiten Grund wichtig: Nicht die ersten Worte des neuen Herrschers sind maßgeblich, sondern zwei andere Worte setzen das Vorzeichen für Jesu Leben: Der Täufer Johannes, der von sich weg und auf den Christus hinweist. Der Täufer wird zum Garanten dafür, dass Jesus und später seine Jünger fest eingebettet in die Heilsgeschichte Israels bleiben. Das gilt bis heute: Vor dem Hintergrund des Täufers muss man sagen: es gibt kein Christentum ohne Juden. Das zweite Vorzeichen für Jesu Leben vermittelt uns die Stimme aus dem Himmel.
Es gibt kein Christentum ohne Juden.
Das Öffnen des Himmels und die Begegnung von Himmel und Erde, die sich hier ereignet, trägt die gesamte Botschaft des Evangeliums. Jesu Glaubwürdigkeit, sein authentisches Sprechen und Handeln, in denen er anderen einen Blick in den Himmel, in die Welt Gottes gewährt, sind abgesichert durch den Augenblick seiner Taufe bzw. durch das Herabkommen der Taube. Das Volk am Jordan ist Zeuge dafür: Durch diese Stimme (egal ob Gott direkt oder Engelsstimme) wird Jesus bewusst gemacht, in welcher einzigartigen Beziehung zu Gott er steht. Christentum, so könnten wir sagen, das sich von Christus ableitet, ist ein öffentlicher Dialog mit dem Schöpfergott. Wir haben nur Christus. Und wenn wir ehrlich sind, müssten wir Christen eigentlich noch schärfer formulieren: Diese Welt hat nur Christus.
Die Taufe Jesu ist ein historisch greifbares Ereignis: Von Beginn an haben die Christen dieses Ereignis als Auftakt für das Anbrechen des Gottesreiches verstanden (Vgl. Apg 10,37). Die Taufe Jesu im Jordan erklärt uns bis heute, unter welchen Vorzeichen wir das Leben des Herrn verstehen sollen. Seine Taufe erklärt, wes Geistes Kind dieser Jesus von Nazareth ist. Das ist nicht irgendein Lehrmeister oder ein kluger Lebensratgeber. Es kommt auch nicht auf seine Aussagesätze an, sondern das eigentliche Wesensmerkmal ist, dass er der Sohn des allmächtigen Schöpfergottes ist. Der Sohn, an dem der Vater Wohlgefallen hat. Der Sohn, über den Gott alle Menschen überall auf der Welt erreichen möchte: „Ich schaffe und mache dich zum Bund mit dem Volk, zum Licht der Nationen.“ (Jes 42,6). Amen.
Ich weiß nicht genau, ob es Ihnen ähnlich ergeht, aber ich habe Märtyrern gegenüber immer ein zweifaches Gefühl. Einerseits ist da die Bewunderung. Märtyrer sind offensichtlich starke Menschen: Frauen und Männer, die für Christus sterben, sind Helden des Glaubens. Auch
Ich weiß nicht genau, ob es Ihnen ähnlich ergeht, aber ich habe Märtyrern gegenüber immer ein zweifaches Gefühl.
Einerseits ist da die Bewunderung. Märtyrer sind offensichtlich starke Menschen: Frauen und Männer, die für Christus sterben, sind Helden des Glaubens. Auch in unserer Zeit erleben wir jede Menge solcher Helden: Die Christen sind heute die meistverfolgte Glaubensgemeinschaft der Welt. Anderseits habe ich immer auch eine bestimmte Furcht oder eine Ehrfurcht empfunden: Wäre ich imstande, Christus derart zu bezeugen wie z.B. der heilige Franziskanerpater Engelbert Kolland, der 1860 in Damaskus sein Leben gelassen hat.
Martyrium ist nicht Todessehnsucht. Es geht nicht darum, dass Menschen lebensmüde sind. Fast jedem Martyrium voraus geht ein inneres Ringen, ein Abwägen von Argumenten: Bestehe ich auf den Grundsatz oder gebe ich nach? Bei einer Vielzahl von Märtyrern – insbesondere während der Zeit des Nationalsozialismus – wissen wir von diesem Ringen. Denken wir nur an den seligen Franz Jägerstätter: Seine Ablehnung des menschenverachtenden und auch antichristlichen Regimes bedeutete auch, dass seine Familie ohne ihn zurechtkommen musste. Das war ihm bewusst. Und damit hat Franz Jägerstätter auch gerungen. Christliches Martyrium ist also nicht unüberlegtes Handeln: Wann ist der Moment gekommen, an dem man nicht mehr ausweicht? P. Engelbert war um das eigene Leben bemüht. Erst als ihm die Häscher keinen Ausweg mehr ließen, blieb er standhaft: Eine Verleugnung des Glaubens kam für ihn nicht in Frage.
Heute tragen alle möglichen Bekenner die Bezeichnung „Märtyrer”. Im ursprünglichen Sinn stehen Märtyrer aber nicht für eine eigene Idee ein. Märtyrer bezeugen nicht sich selbst, sondern sie weisen von sich weg: Märtyrer bezeugen Christus. Es ist eine besondere Form der Nachfolge, die ökumenisch ist: So gut wie alle christlichen Konfessionen kennen Menschen, die ihr Leben lassen mussten, insofern sie an Christus festhielten. Erst der Bezug auf Christus macht aus selbstsicherer Sturheit echte Standhaftigkeit.
Standhaftigkeit und Christus-Liebe sind zwei gleich wichtige Seiten eines Blutzeugen. Nicht jeder Gläubige muss ein Martyrium erleiden, aber alle brauchen wir solche Vorbilder: “Wer sein Leben um meinetwillen verliert, der wird es gewinnen” (Mt 10,39).
Die Orthodoxe Kirche in Russland ist größtenteils mit dem Staat verwoben. Spätestens seit Wladimir Michailowitsch Gundjajew im Jahr 2009 als Kyrill I. zum Patriarchen aufgestiegen ist, wähnt sie sich in einem Kulturkampf gegen liberale Werte des Westens. Aber nicht gegen
Die Orthodoxe Kirche in Russland ist größtenteils mit dem Staat verwoben. Spätestens seit Wladimir Michailowitsch Gundjajew im Jahr 2009 als Kyrill I. zum Patriarchen aufgestiegen ist, wähnt sie sich in einem Kulturkampf gegen liberale Werte des Westens. Aber nicht gegen alle. Innerhalb der Orthodoxen Kirche gibt es Vertreter alternativer Standpunkte oder sogar Widerständler, aber von außen sind sie kaum wahrnehmbar. Das ist die Einschätzung von Regina Elsner, Professorin für Ostkirchenkunde und Ökumenik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster, die sie in einem Online-Gespräch der Reihe „Sozialethische Morgenlage Mitteleuropa“ dargelegt hat. Die Serie ist ein Projekt der in Wien tätigen Vereinigung für Sozialethik in Mitteleuropa: Mit dem neuen Format lädt die Vereinigung regelmäßig zu einem Gedankenaustausch mit Wissenschaftern zu aktuellen Themen. Anmelden kann man sich online. Einige Notizen eines Hörers.
1. Vernunft als Teil des Glaubens
Die Orthodoxen Kirchen in Osteuropa – und insbesondere jene in Russland – sind nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Sozialismus innerhalb weniger Jahre zu einer machtvollen Institution herangewachsen. Kirchliche Vertreter haben Einfluss auf Haltung und Überzeugungen vieler Menschen. Bischöfe wie Kyrill üben diesen Einfluss auch aus, indem sie gesellschaftliche Entwicklungen kommentieren und bewerten. Nachdem zu Beginn der 1990er Jahre die meisten anderen Institutionen aus der Sowjetzeit zusammengefallen waren, schenkten viele Menschen der intakt gebliebenen Kirche zunehmendes Vertrauen. Spätestens ab 1997 ist es zu einer verstärkten Kooperation zwischen Orthodoxer Kirchenführung oder Orthodoxen Theologen und staatlichen Machthabern gekommen.
Aus Sicht eines säkularen Staates stellt sich die Frage, welche Verpflichtungen nimmt der Staat Kirchen und kirchlichen Vereinigungen ab und welche Rechte gewährt er ihnen. Das geschieht in den meisten Staaten der Freien Welt in Prozessen jahrelanger Aushandlungen und auch nicht aus Gründen gnadenhafter Zugeständnisse der Kirche gegenüber, sondern wegen der Einsicht, dass Ausübung von Religion ein grundsätzlich den Bürgern zu garantierendes Recht ist. Ähnlich ist dieselbe Fragestellung aus der anderen Perspektive, jener der Religionsgemeinschaft, seit Jahrhunderten ein prozesshaftes Ringen: Welche Beziehung soll eine Glaubensgemeinschaft oder sollen die Gläubigen zum Staat und dessen Machtstrukturen unterhalten? In jüdisch-christlicher Vorstellung ist die Frage nach der angemessenen Beziehung auch eine Glaubensfrage, insofern der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs immer auch weltimmanent in der Geschichte wirkt. Das ist biblisch gut grundiert und im Christentum seit seinen Anfängen eine beständig neu auftretende Frage. Insofern Gott neben allem Anderen in der Welt auch die nicht gläubigen Herrscher oder säkulare Machtstrukturen will oder zumindest zulässt, steht ihre grundsätzliche Legitimität theologisch außer Zweifel. Was natürlich nie heißen kann, dass der einzelne Akt eines Herrschers göttliche Legitimation erfährt. Im Hintergrund leuchtet des Paulus holzschnitzartig formulierte Mahnung an die Christen in Rom auf, wonach sich jeder Mensch den Trägern staatlicher Gewalt unterzuordnen habe, denn „es gibt keine staatliche Gewalt außer von Gott; die jetzt bestehen, sind von Gott eingesetzt“ (Röm 13,1). Dabei geht es im Wesentlichen darum, dass Bürger ihren Glauben nicht in einen endzeitlichen Aufstand gießen, wie Bonhoeffer konstatiert, der die Gottgegebenheit von staatlicher Obrigkeit insofern begrenzt sieht, dass neben ihr andere Obrigkeiten wie bspw. die Familie dieselbe Autorität beanspruchen können und keine Obrigkeit die andere zu vereinnahmen hat1. Außer Frage steht, dass mit dieser Mahnung des Völkerapostels leicht Unrecht geschehen kann und geschehen ist. Einen negativen Höhepunkt konstruierten die deutschen Nationalsozialisten, die mit einer verzerrten Lektüre von Röm 13 den eigenen Totalitarismus als gottgewollt darzustellen suchten. Was nur mittels Auslassung wesentlicher Teile des paulinischen Textes möglich ist2. Paulus steht mit seiner Mahnung in der Tradition anderer diasporajüdischer Denker wie Philo und Josephus. Schlussendlich ist der Abschnitt eine Absage daran, das Evangelium zu einem revolutionären Akt zu degradieren, der die heidnische Herrschaft mit dem Reich Gottes ersetzen soll. Zudem steht der Integrationsaufruf unter den Vorzeichen fundamentaler Grundwerte wie beispielsweise der Nächstenliebe (Röm 13,8), Gerechtigkeit (Röm 13,5-6) oder Selbstverantwortung (Röm 12,2).
Der Versuch der Christen, die pantokratische Christologie oder den, aus dem Judentum übernommenen strikten Monotheismus mit einer Welt zu vereinen, die religiös pluralistisch und oft genug auch christenfeindlich ist, ist historisch von einmal mehr, einmal weniger starkem Erfolg geprägt. Katholischerseits scheint das Konzil zu sehr ähnlichen Überzeugungen gelangt zu sein wie zuvor Bonhoeffer (GS 73-76). Wesentlich ist dabei, dass sowohl der individuelle Mensch als auch die kollektive Gemeinschaft eine saubere Trennung der Lebensbereiche vornimmt: „Sehr wichtig ist besonders in einer pluralistischen Gesellschaft, daß man das Verhältnis zwischen der politischen Gemeinschaft und der Kirche richtig sieht, so daß zwischen dem, was die Christen als Einzelne oder im Verbund im eigenen Namen als Staatsbürger, die von ihrem christlichen Gewissen geleitet werden, und dem, was sie im Namen der Kirche zusammen mit ihren Hirten tun, klar unterschieden wird“ (GS 76). In diesem Grundsatz offenbart sich ein erstes Problem der theologischen Aufladung des russischen Patriarchen, mittels derer er den Kriegszug gegen die Ukraine zu rechtfertigen sucht. Kyrill positioniert die Russisch-Orthodoxe Kirche in einem „metaphysischen Kampf“, bei dem es gelte, sich „auf Seiten der Wahrheit Gottes, auf Seiten dessen, was uns das Licht Christi, sein Wort, sein Evangelium offenbaren“ zu stellen. Die Regierung im Kreml ist also ein heilbringendes, ein soteriologisches Instrument geworden. Aufrechterhalten lässt sich diese Zuschreibung allerdings nur, solange der Patriarch wesentliche Aspekte des russischen Handelns auslässt: Todesopfer, Vergewaltigungen, Verschleppungen und nicht zuletzt der nicht zu leugnende Bruch internationaler Vereinbarungen. Im katholischen Verständnis sind Gerechtigkeit und Vernunftgebrauch aber nicht nur optionaler Zusatz, sondern wesentlicher Bestandteil des Glaubens. Darauf wies 2010 Papst Benedikt XVI. vor dem deutschen Bundestag hin und zitierte in diesem Zusammenhang nicht zufällig das berühmte Wort des Augustinus von der Räuberbande des rechtsfreien Staates: Auf Augustinus hatte sich schon Sophie Scholl bezogen. Entscheidend bei der Feststellung dessen, was Recht ist, sei es, dass Vernunft und Natur aufeinander bezogen werden müssten, konstatierte dabei Ratzinger. Wendet man nun den Grundsatz auf die Parteinahme des Patriarchen an, wird schnell klar, dass seiner Einordnung in das Kreml-System eine beschädigte Theologie zugrunde liegt. Wer seiner Argumentation folgt oder Verständnis für die russische Position im Krieg gegen die Ukraine signalisiert, muss erklären, wie er die Elemente offensichtlichen Unrechts rechtfertigt.
2. Mit wem wir (nicht mehr) sprechen
Es scheint so, dass der Diskurs innerhalb der Russischen Orthodoxie genauso wenig einhellig ist wie in der russischen Gesellschaft insgesamt. Widerstand organisiere sich vorwiegend in der Auslandscommunity, innerhalb Russlands träten Dissidenten immer weniger öffentlich in Erscheinung, erzählt Elsner während der Morgenlage. Im März 2022 haben sich ca 300 Priester der Orthodoxen Kirche in einem Offenen Brief gegen den Krieg ausgesprochen. Im Großen und Ganzen bleibt der Widerstand aber im Untergrund. Das Regime im Kreml ist auch auf Diskurshoheit bedacht und investiert einiges im In- und Ausland, diese Diskurshoheit zu erlangen oder zu bewahren. Dazu gehört auch die Verfolgung von Dissidenten und deren Familien. Vor diesem Hintergrund sind auch all jene Versuche einzuordnen, Gespräche mit Offiziellen oder Kirchenvertretern für das eigene Narrativ zu instrumentalisieren. Aus der eigenen Erfahrung in Osteuropa empfiehlt Elsner deswegen, „dass man mit der Kirchenleitung überhaupt keinerlei Kontakte mehr pflegen sollte„, derlei Anstrengungen – auch ökumenischer Art – seien durchgängig instrumentalisiert worden.
Das verständliche Ansinnen, sich nicht für Propaganda instrumentalisieren zu lassen, eröffnet ein Dilemma: Einerseits führt Russland einen Informationskrieg, mit dem es auch im Ausland den Diskurs zu bestimmen sucht. Gesprächspartner zu haben, verleiht Legitimation. Demzufolge erscheint es angemessen, einem kriegerischen Regime nicht auch noch von außen solche Legitimation zu geben. Anderseits verbleibt einer christlich-sozial geprägten Anstrengung zum Frieden nur der Dialog. Vor dem Hintergrund, dass weiterhin die Mehrheit der Menschen in Russland hinter ihrer Regierung stehen, wird die Dialogbereitschaft sogar zur Verpflichtung. Insofern erscheinen auch die Dialog-Anstrengungen des Heiligen Stuhls weniger in „mangelnder Kompetenz“ begründet, sondern sind Ausdruck einer konsolidierten Haltung oder Tradition: Für die vatikanische Diplomatie ist der Erhalt eines Gesprächsfadens ein übergeordnetes Ziel, für das sie unter Umständen – z.B. in China – sogar bereit ist, bei Glaubensinhalten Kompromisse einzugehen. Ausschließlich mit Oppositionellen zu sprechen, birgt mittelfristig die Gefahr, an Russland vorbeizureden. Es wird also eine beständige Abwägung brauchen, unter welchen Umständen und zwischen welchen Partnern Dialog angemessen erscheint.
3. Wie universal „Menschenrechte“ sind
Innerhalb eines sozialethischen Diskurses scheint es einen universal gültigen Kanon zu geben, an dem Handlungen und Inhalte kirchlicher Institutionen gemessen und bewertet werden. Auch Prof. Elsner bezieht sich in der Auseinandersetzung mit der Rolle der Orthodoxen Kirche in Russland mehrmals auf Menschenrechte. So sei die russische Orthodoxie bezüglich freier Religionsausübung international zwar eine Vorkämpferin, Menschenrechte, die die individuelle Lebensweise schützen sollen, würden gleichzeitig oft gar nicht erst anerkannt oder beschnitten. Solche oder ähnliche Tendenzen sind auch in anderen Kirchen zu beobachten, in Russland erlaubt die Verzahnung mit staatlichen Machtstrukturen eine entsprechende Politik. Doch sind Menschenrechte überhaupt relevant zur Beurteilung religiöser Inhalte? In den meisten Staaten der Welt – nicht nur im Westen – würde diese Frage bejaht: Es herrscht breiter Konsens darüber, dass es Rechte gibt, die jemandem zukommen, insofern er Mensch ist. Aus christlicher oder katholischer Sicht speist sich der Grundsatz im biblischen Verständnis der Geschwisterlichkeit, die allen Menschen zuteil wird. Schwieriger ist es, die Menschenrechte zu beschreiben, also ihre konkrete Entfaltung. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 hat zwar globale Anerkennung gefunden, ist aber ein juristischer Text, der abstrakte Ideale verbindlich machen will. Ihre Umsetzung hängt aber vom spezifischen sozio-kulturellen Kontext ab, wie jüngst auch Freistetter / Neuhold dargelegt haben.3
Die quantitative und qualitative Erweiterung des Menschenrechtskataloges nach 1948 birgt jedoch die Gefahr einer Schmälerung des Konsenses und damit der Wirksamkeit der erklärten Ideale insgesamt: „Es ist gängige Praxis geworden, dass Gruppen ihre eigenen ‚Menschenrechte‘ als Kampfinstrumente gegen die ‚Menschenrechte‘ anderer Gruppen einfordern.„4 Realistischerweise kann man annehmen, dass weder die russische Orthodoxie noch der Freie Westen mittelfristig von seinem eigenen Menschenbild Abstand nehmen oder jeweils zentrale Inhalte aufgeben wird. Vor dem Hintergrund des Ringens um Diskurshoheit erscheint es jedoch ratsam, in eine Auseinandersetzung das Gemeinsame zu betonen und nicht mit einem vage definierten Menschenrechts-Begriff zu gehen, der dann Anlass bietet, dem Westen einen Werte-Imperialismus und kulturellen Kolonialismus vorzuwerfen.
4. Welche Gesellschaft zivil ist
Die Frage, wie sich Kirche – im Fall Russlands eben die Russisch-Orthodoxe Kirche – zum Staat positioniert, lässt sich durchaus weiter fassen: Wie integriert sich Kirche angemessen in eine Gesellschaft? Bereits Hannah Arendt hat Widersprüchlichkeiten in der Entwicklung des Gesellschaftsbegriffes aufgezeigt und darauf hingewiesen, wie sich auf der Ebene von Gesellschaft die Sphären des privaten Haushaltes und der öffentlichen Politik annähern bzw. vermischen.
Hängt auch der Bedeutungsinhalt von „Gesellschaft“ vom Fach ab, über das man sich ihm nähert, so kann man dennoch grob feststellen, dass Gesellschaft eine Gemeinschaft von Personen umfasst, die auf irgendeine Weise miteinander interagieren. Problematischer und in sozialethischen Debatten zunehmend eine Herausforderung ist der Begriff der „Zivilgesellschaft“. Geformt hat den Begriff Antonio Gramsci, der darin all jene Gemeinschaften zusammenfasste, die nicht staatlich sind, insofern er jede staatliche Einrichtung als eine Art martialisches Instrument verstand, die zur Unterdrückung der Arbeiterklasse diente. „Zivil“ versteht sich dabei als Gegenteil der martialischen Staatsorgane. Die Begriffsverwendung hat sich inzwischen gewandelt. Heute beschreibt Zivilgesellschaft „(…) einen Bereich innerhalb der Gesellschaft, der zwischen dem staatlichen, dem wirtschaftlichen und dem privaten Sektor angesiedelt ist. Die Zivilgesellschaft umfasst die Gesamtheit des Engagements der Bürger eines Landes – zum Beispiel in Vereinen, Verbänden und vielfältigen Formen von Initiativen und sozialen Bewegungen. Dazu gehören alle Aktivitäten, die nicht profitorientiert und nicht abhängig von parteipolitischen Interessen sind.„5Der Begriff „Zivilgesellschaft“ erscheint in der Öffentlichkeit häufig als qualitative Beschreibung des Nicht-Verzweckten, des absichtslosen Engagements für das Gemeinwohl. Im Idealfall entspringt „Zivilgesellschaft“ der Graswurzel Bevölkerung: Bürger engagieren sich ohne weitere strategische Absichten für ein wichtiges und gemeinwohlorientiertes Anliegen. Bekannte Beispiele sind die Bürgerrechtsbewegung in der ehemaligen DDR, die zum Fall der Berliner Mauer geführt haben oder auch in kleinerem Maßstab Verbände Freiwilliger Feuerwehren. Im Falle Russlands konstatiert Elsner eine Zivilgesellschaft, die allenfalls im Untergrund tätig ist. Im Gegensatz dazu hätten andere Länder Osteuropas stärkere zivilgesellschaftliche Strukturen, die dem Staat und den Kirchen gegenüber als Korrektiv auftreten.
In einer multipolaren Kommunikationsgesellschaft mit einem stark strukturierten Dienstleistungssektor verschwimmen aber zunehmend die Abgrenzungen der Bereiche. Das gilt insbesondere für den Diskurs auf globaler Ebene. Größere Verbände unterhalten zur Erreichung ihrer Vereinszwecke auch grenzüberschreitend wirtschaftliche Tätigkeiten und sind mitunter auch parteipolitisch vernetzt, wie die jüngsten Diskussionen um das bundesdeutsche Recherchenetzwerk Correctiv oder die Mittelmeer-Aktivitäten des Vereines Sea Watch nahelegen. Für eine transparente Debatte erscheint es deswegen zielführender, auf die qualitative Klassifizierung von Interessensgemeinschaften zu verzichten und stattdessen eine Gesellschaft in der Gesamtheit der in ihr wirkenden Akteure zu betrachten. In sozialethischer Hinsicht ist es nämlich schwer belegbar, wieso etwa die Organisation Global 2000 mit dem Prädikat „zivilgesellschaftlich“ versehen werden kann und die Arbeiterkammer eben nicht.
Was bleibt
Insgesamt kann man feststellen, dass der Überfall Russlands auf die Ukraine eine ganze Reihe an sozialethischen Beobachtungen offenbart hat, die bereits vorgelegen waren, die aber seit Februar 2022 unübersehbar aufgebrochen sind:
– Das Regime von Vladimir Putin hat ungefiltert gezeigt, dass es für den Erhalt der Macht bereit ist, Krieg zu führen, Gegner im In- und Ausland zu verfolgen und auszuschalten. Ein wesentlicher Faktor bei der Absicherung seiner Macht kommt kirchlichen Akteuren zu. Vor diesem Hintergrund stellt sich christlicherseits neu die alte Frage, wie eine angemessene Positionierung von Kirche zu Staat überhaupt zu gestalten ist.
– Im Lichte des „hybriden“ Informationskrieges, den Russland nicht nur im eigenen Land, sondern auch im Ausland führt, stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen mit den Verantwortlichen in Moskau überhaupt ein Dialog möglich und wünschenswert ist. Sozialethisch erscheint eine völlige Einstellung des Dialoges undenkbar, insofern die Alternative zum Gespräch immer das Gefecht ist.
– Maßstab christlich-sozialer Reflexionen sind in einer pluralistischen Welt Menschen- und Bürgerrechte. Allerdings wird in jedem Kommunikationsgeschehen aufs Neue auszutarieren sein, wer konkret was darunter versteht. Eine umfassende Reflexion über Menschenrechte kommt also nicht umhin, am eigenen Menschenbild zu arbeiten. Anthropologische Vorstellungen sind aber nicht universal gültig, sondern unterliegen selber sozio-historischen Umständen.
– Im Sinne einer transparenten Debatte in der Öffentlichkeit erscheint es ratsam, offen darzulegen, wer welche Interessen vertritt: Die Gesellschaft ist eine Einheit mit unterschiedlichen, im Idealfall gleichermaßen legitimierten Akteuren. Eine Entgegensetzung von glaubwürdigeren „Zivilorganisationen“ und weniger glaubwürdigen staatlichen Einrichtungen führt mittelfristig zu Verwirrung.
1 Bonhoeffer, Dietrich: Theologisches Gutachten: Staat und Kirche, in: Glenthøj, Jørgen / Kabitz, Ulrich / Krötke, Wolf (Hg.): Bonhoeffer, Dietrich. Konspiration und Haft. 1940-1945. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1996, (= DBW 16), 506–535.
2 Windegger, Moritz: Alle sind Diener Gottes. Einwirkungen jüdischer Theologie auf das Verständnis von Staat und Gläubigen in Röm 13,1-7, Graz 2023, 32-40.
3 Freistetter, Werner / Neuhold, Leopold: In Zeiten der Krise. Herausforderungen für Gesellschaft und Kirche, Wien 2023, 98-99.
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