Hoffnung in der Dunkelheit
Hoffnung rettet Leben: Eine Predigt zur Fastenzeit in der Franziskanerkirche Graz.
Der Apostel Paulus schreibt den Römern von der Hoffnung, welche die ganze Schöpfung erfüllt. Das ist ein Ziel, das der Mensch nicht machen kann, zu dem er aber beitragen kann. Als Pilger der Hoffnung. Fastenpredigt am 21. März 2025 in der Franziskanerkirche Graz.
Lesung: Röm 8,18-30
18 Ich bin nämlich überzeugt, dass die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll. 19 Denn die Schöpfung wartet sehnsüchtig auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes. 20 Gewiss, die Schöpfung ist der Nichtigkeit unterworfen, nicht aus eigenem Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat, auf Hoffnung hin: 21 Denn auch sie, die Schöpfung, soll von der Knechtschaft der Vergänglichkeit befreit werden zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes. 22 Denn wir wissen, dass die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt. 23 Aber nicht nur das, sondern auch wir, obwohl wir als Erstlingsgabe den Geist haben, auch wir seufzen in unserem Herzen und warten darauf, dass wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne offenbar werden. 24 Denn auf Hoffnung hin sind wir gerettet. Hoffnung aber, die man schon erfüllt sieht, ist keine Hoffnung. Denn wie kann man auf etwas hoffen, das man sieht? 25 Hoffen wir aber auf das, was wir nicht sehen, dann harren wir aus in Geduld. 26 So nimmt sich auch der Geist unserer Schwachheit an. Denn wir wissen nicht, was wir in rechter Weise beten sollen; der Geist selber tritt jedoch für uns ein mit unaussprechlichen Seufzern. 27 Der die Herzen erforscht, weiß, was die Absicht des Geistes ist. Denn er tritt so, wie Gott es will, für die Heiligen ein. 28 Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alles zum Guten gereicht, denen, die gemäß seinem Ratschluss berufen sind; 29 denn diejenigen, die er im Voraus erkannt hat, hat er auch im Voraus dazu bestimmt, an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilzuhaben, damit dieser der Erstgeborene unter vielen Brüdern sei. 30 Die er aber vorausbestimmt hat, die hat er auch berufen, und die er berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht; die er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht.
Hoffnung rettet Leben
Liebe Brüder & Schwestern,
Wir können nicht sinnvoll über Hoffnung sprechen, ohne über „Hölle“ nachzudenken. Es ist wie bei den großen Filmstreifen: damit das Heldenhafte der Helden eindrücklicher erkennbar ist, verdeutlicht sich in der Geschichte zunächst eine schier unübersichtliche Menge an Gefahr, Rückschlägen oder Gewalt.
Von der Hölle zu sprechen, zumal in einer Predigt, ist aus der Mode gekommen. In Zeitungen liest man zwar noch manchmal davon: als Redewendung oder literarischem Bild. Aber innerhalb der Kirche nicht. Grundsätzlich ist die Zurückhaltung angemessen: Zu oft in der Geschichte wurde mit Drohung von Höllenstrafen Schindluder getrieben, wurden eigene Absichten darin verpackt, indem man mit der jenseitigen Angst der Menschen ganz diesseitige Geschäfte zu machen versuchte. Zurecht sind wir heute vorsichtig mit dem Begriff der Hölle. Wir können aber auch feststellen: Ignorierendes Verschweigen ist vielleicht eine Spur zu vorsichtig. Denn wenn „Hölle“ der Zustand maximaler Ferne von Gott ist, ein Zustand der völligen Erstarrung im eigenen Ich bedeutet, dann ist sie nicht etwas, das eventuell als Strafe eintritt, wenn wir alle den Weg des Zeitlichen gegangen sein werden, sondern: Dann zeichnet sie sich vorher schon ab: im Handeln des Bösen; im Nichthandeln des Guten; im Erleben des Schrecklichen.
In einem ländlichen Dorf eines europäischen Landes fliegen in den frühen Morgenstunden Dutzende Drohnen an und werfen Bomben ab. Kurz hernach rücken die Schergen der russischen Armee ein. Die Kämpfer erschießen Männer, vergewaltigen Frauen und entführen Kinder in das feindliche Russland: Was diese Kinder und viele andere Ukrainer erwartet, ist eine Vorahnung von Hölle.
Wenn der 35-jährige Jarden Bibas von blutrünstigen und frevlerischen Terroristen entführt wird, ein Jahr lang in unwürdigen Zuständen als Geisel gehalten und gefoltert wird; wenn er dann abgehungert vor einer johlenden Menge frei gelassen wird und erfährt, dass seine Frau Shiri längst vergewaltigt und ermordet wurde, genauso wie seine kleinen Kinder Kfir und Ariel: Dann können wir begründet davon ausgehen, dass sich der Abgrund, der sich im Innern dieses Mannes aufgetan hat, einem höllenartigen Zustand sehr ähnlich anfühlt.
In einem europäischen Land steht ein Mensch vor dem Nichts. Er hat alles verloren hat oder sieht keine Perspektive mehr. Falls ein solcher Mensch unheilbar krank ist oder wenn sich einer in einer schier nicht bewältigbaren Verzweiflung befindet und dann beschließt, seinem Leben ein Ende zu setzen: Ist dieses existentielle alleingelassen-Sein nicht eine Vorahnung auf Hölle?
„Ich bin nämlich überzeugt, dass die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll“ (Röm 8,18), schreibt Paulus und wir sollten uns davor hüten, mit diesem Satz ein einfaches Hinweglächeln des Schlechten und Bösen zu versuchen. Wir können einem Opfer von Vergewaltigungen, welches auch noch Jahre nach dem Verbrechen immer wieder einmal in die Erinnerung der erlittenen Gewalt verfällt, wir können einer Frau, die den schrecklichen Moment neu durchlebt, den Schmerz spürt, den Atem riecht oder die Stimmen hört, nicht sagen „die gegenwärtigen Leiden bedeuten nichts im Vergleich zur künftigen Herrlichkeit“. Wir sollten das nicht, und Paulus hätte es ziemlich sicher auch nicht getan: Er weiß von den menschlichen Abgründen und deren Tiefe: Der Völkerapostel, der selber Verfolger gewesen war, der selber Täter war, ist auch nach der Konversion ein Getriebener geblieben: Sein „Stachel im Fleisch“ (2 Kor 12,7) ist – was immer er damit genau beschreiben wollte – jedenfalls nichts, das man wegerklären könnte. Seine Enttäuschung über Verräter oder falsche Freunde auch nicht. Paulus ist Realist: Sein Verweis auf die gegenwärtige Zeit ist nicht Zynismus. Es ist ein In-Erinnerung-Rufen, dass nichts, auch kein Leid, endgültig ist. Das ist keine oberflächliche Relativierung des Leidens, das ist eine Relativierung der Endgültigkeit, der zeitlichen Dauer des Leidens.

Paulus ist jemand, der Zeit seines Lebens die Wiederkunft Christi erwartet hat. Von der Wiederkunft des Herrn sprechen wir heute auch nicht mehr so gerne, weil uns modernen Menschen das Konzept nicht in den Kopf geht. Oder es nicht auf der Tagesordnung steht. Die Welt ist dermaßen voller Schlechtigkeiten, dass man keinen guten Gott annehmen darf, der die Welt zu einem guten Ende vollendet. Insofern ist der moderne Mensch der Ansicht, die Menschen müssten nicht nur selbst für Befreiung und Gerechtigkeit sorgen, sondern auch eine vollendete Gerechtigkeit & Freiheit schaffen. Weltanschauungen, die die endgültige Freiheit und Gerechtigkeit versprechen, verleiten die Menschen zu maßlosen Übergriffigkeiten. Das haben wir spätestens im 20. Jahrhundert leidvoll gelernt.
Paulus hingegen dachte anders, über das hinaus, was der Mensch zu schaffen imstande ist: Der einzige endgültige Zustand für uns Christen ist die Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll. Das ist nicht beschönigend gemeint, denn Paulus ist Realist wie überhaupt jeder christlicher Glaube wesenhaft realistisch bzw. realitätsbezogen sein muss. Gottes Wort ist Mensch geworden (Joh 1,14), d.h. es ist Wirklichkeit geworden. Und dieser Mensch wurde auf unerträgliche Weise von anderen Menschen gefoltert und ist am Kreuz gestorben.
Was wir heute und die Christen in Rom von Paulus zu hören bekommen, ist also nicht eine Einladung an den einzelnen Gläubigen, sich das Leid oder auch das Unrecht schön zu reden. Mit seinem Rückgriff auf die Schöpfungsgeschichte sagt er den machtverwöhnten Römern nichts anderes, als dass ihr eigenes Reich endlich ist. Sogar das Weltreich hat keine absolute Geltung.
„Unsere Welt ist kein Dauerzustand“
Der moderne Mensch, auch der moderne Christ (manchmal) möchte es nicht unbedingt zu laut hören: Aber unsere Welt ist kein ewiger Dauerzustand. Die Wesen und Dinge, aus denen diese Welt gemacht sind oder die diese Welt strukturieren, sind vergänglich. Es ist nicht der Mensch, der durch fortschreitende Formen von Gerechtigkeit das Leid, das Böse, die ganze Gewalt abzuschaffen vermag. Gott und nur Gott wird die Herrlichkeit offenbaren. Wobei der gebildete Jude Paulus mit Herrlichkeit die ungefilterte Anschauung, das ungehinderte Hinsehen auf Gott meint. In einem einzigen Fall ist diese Herrlichkeit bereits zutage getreten und historisch fassbar, nämlich in Jesus von Nazareth. Seine Jünger bezeugen, dass durch göttliches Eingreifen Verwandlung geschieht, sie bezeugen die Auferstehung: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt und wir haben seine Herrlichkeit geschaut“ (Joh 1,14). Herrlichkeit ist also sozusagen die maximale Gottesnähe. Sie ist das Gegenteil von Hölle.
Eine Hoffnung auf einen gewandelten, sprich verherrlichten Zustand, dass alles, was Menschen in der Zwischenzeit getan oder unterlassen haben, was sie erfahren oder erlitten haben, im allgemeinen Strahlenkranz des Christus aufgeht. Der Zielpunkt unseres Daseins ist keine Reset-Taste, mit der die Schöpfung einfach neu gestartet würde, und danach halt auch jeder andere Mensch mit Adam & Eva durch den Garten läuft.
Eine Vollendung in Herrlichkeit ist gerecht und zwar umfänglich gerecht, wie Papst Benedikt XVI. in seiner Hoffnungs-Enzyklika darlegt: „Niemand und nichts bürgt dafür, dass nicht weiter der Zynismus der Macht, unter welche ideologischen Verbrämungen auch immer, die Welt beherrscht“ (Spe Salvi 42). Im menschlichen Anspruch der allgemeinen Welt-Rettung kommt der einzelne Mensch mit seinem Leid unter die Räder. Auch diese Einsicht gehört leider zum Realismus.
Wir müssen also schon davon ausgehen, dass die kosmologische Verheißung, die Paulus den Römern gegenüber darlegt, nicht nur eine von vielen Welterklärungen ist, sondern dass sie wiederum konkrete Auswirkungen auf den Einzelnen hat: Es ist im Großen und Ganzen eben nicht egal, wie es dem Kleinen und Unmündigen (Vgl. Mt 11,25) ergangen sein wird. Es ist nicht egal, ob jemand eine Mörderin, ein Dieb oder eine Lügnerin ist. Die Hoffnung auf eine vollendete Herrlichkeit ist auch die Hoffnung auf eine wirklich ausgleichende Gerechtigkeit. Wirklich ausgleichend ist sie nur, insofern sie eben nicht menschengemacht ist. An die Gerechtigkeit Gottes – das ist unbestrittener Konsens in allen Jahrtausenden jüdisch-christlicher Erfahrung – kann und wird kein menschliches Planen und keine menschliche Ideologie heranreichen, sei sie auch noch so ausgefeilt.
„Ein wirklicher Friede stellt sich zuallererst dem Leid entgegen“
Wir sehen das in diesen Monaten sehr deutlich vor Augen: „Frieden!“ tönt es von vielen Seiten in und an die Ukraine. Keine Waffen sollen geliefert werden, heißt es. Und das schnelle Wort vom Frieden löst eine gutgemeinte Sehnsucht aus. Die unerfüllt bleibt, insofern sie die Realität verdeckt. Die Alternative zu Waffenlieferungen ist nicht Friede. Die Alternative zu Waffenlieferung ist, dass Drohnen Dörfer bombardieren, Söldner Frauen vergewaltigen und kleine Kinder nach Russland verschleppt werden. Und zwar weiterhin. Ein wirklicher Friede geht über dieses Leid nicht hinweg. Ein wirklicher Friede stellt sich zuallererst diesem Leid entgegen.
Was wir Menschen trotz aller Anstrengung nicht auszugleichen vermögen, wird die göttliche Vollendung ausgleichen. Rettende Hoffnung ist also die Sehnsucht nach einem „Mehr“ als diese Welt und die Menschen, denen die Welt seit Anbeginn unterworfen ist, selber zu leisten vermag.
Vor diesem Hintergrund wird klar, dass das Gericht Gottes nicht eine Drohung sein soll. Das Gericht Gottes ist Gnade und Gerechtigkeit. Bloße Gnade würde in Gleichgültigkeit münden, ausschließliche Gerechtigkeit endet in einem inakzeptablen Zustande der Furcht. Das Gericht ist keine Drohung, das Gericht ist Reinigung. Und zwar eine Reinigung, die nicht erst eintritt, wenn man das Zeitliche gesegnet hat. Es ist eine Reinigung, die hier, in diesem Leben beginnt und derer jeder Mensch bedarf. Es kann Menschen geben, die in sich den Willen zu Wahrheit & Realismus und Absicht zur Liebe ausradiert haben. Das sind Menschen, die hauptsächlich durch und mit Lügen leben. Es sind Menschen, die nur mehr Hass empfinden. Das ist der einzige Zustand, in dem ein Mensch der Ansicht sein kann, dass er keinerlei Reinigung, keinerlei Umkehr, keinerlei μετάνοια bedarf (Vgl. Röm 2,4-5).
Die Annahme, dass es solche Menschen möglicherweise gibt, ist – denke ich – eine Alltagserfahrung. Solche Menschen kann es geben. „Das ist ein furchtbarer Gedanke, aber manche Gestalten gerade unserer Geschichte lassen solche Profile erkennen“, meint Benedikt XVI. (Spe Salvi 45) und stellt mit KKK 1033-1037 fest, dass ein solcher Zustand als „Hölle“ bezeichnet werden kann. Wir sind zurecht zurückhaltend mit der endgültigen Bewertung anderer Menschen, weil niemand von uns wirklich in jemand Anderen hineinschauen kann. „Der, der die Herzen erforscht“ (Röm 8,27) ist nur einer, nämlich Gott. Aber sollten wir nicht bei den Anzeichen dafür schon damit beginnen, dagegen anzurudern?
Der Zustand, in dem ein Leben mit Hass und Lüge, mit Leid und Gewalt verbrämt ist, ist ein unübersichtlicher Zustand. Das sind die „unaussprechlichen Seufzer“ (8,26), denen nur der Geist Gottes einen Sinn zu geben vermag. Besser wäre an dieser Bibelstelle eine eindeutig negativ besetzte Übersetzung gewesen. Dieses Wort στεναγμός ist ein unaussprechliches Stöhnen. Es gibt menschliche Dunkelheit, die wir nicht beschreiben können. Der Israeli Jarden Bibas wird überfallen, ein Jahr lang gefangen gehalten, dabei gequält und gefoltert. Und erst als er endlich freigelassen wird, erfährt er, dass jene, die er liebt, jene für die er gelebt hat längst dahingeschlachtet sind. Im Moment der Freilassung tut sich ein Abgrund auf, der dermaßen tief ist, dass keine menschlichen Worte mehr ausreichen. Jeder Versuch der Erklärung oder gar Relativierung muss als zynisch gewertet werden: Keine Politik, keine Maßnahme, auch kein Militärschlag rechtfertigt diese Morde.

Unser Generalminister, der Generalminister des Franziskanerordens hat am Josephi-Tag (25.3.2025) dazu aufgerufen, in diesem Jahr die anstehende Karfreitagskollekte – das ist die jährliche Spendensammlung für die Christen im Heiligen Land – besonders engagiert zu begleiten. Auf der Homepage des Ordens ist der Brief nachzulesen. Eine deutsche Arbeitsübersetzung findet sich auf der Homepage der Franziskanerprovinz Austria. Fr. Massimo Fusarelli warnt davor, dass der Krieg die christliche Präsenz im Heiligen Land auszulöschen droht. Er appelliert daran, dass die universale Weltkirche die Friedensarbeit der Franziskaner unterstützt. Und er sagt „Machen wir uns den Schrei der Christen zu eigen“. Eine Welt, die einem Hass versinkt, welcher jahrzehntelang gepflegt und gefördert worden ist, kann nicht einmal mehr schreien. Wir können den Appell ruhig erweitert verstehen. Es gilt für die Christen im Heiligen Land, es gilt für die verfolgten Christen überall auf der Welt, aber es gilt auch über die Christen hinaus für Menschen wie Jarden Bibas: Die erste Form der Solidarität ist, dass wir dem unaussprechlichen Stöhnen eine Stimme geben. Dass wir uns den Schrei der Gequälten zu eigen machen.
„Die er [Gott] aber vorausbestimmt hat, die hat er auch berufen, und die er berufen hat, die hat er auch gerecht gemacht; die er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht“ (Röm 8,30). Liebe Sr. & Br., als ich das erste Mal diesen Satz gelesen habe, kam mir unwillkürlich die Frage, ob es denn auch welche gibt, die mit diesem Satz nicht gemeint sind. Ob Paulus Menschen kennt, die eventuell aus dem Heilsplan hinausgefallen sind. Und wer diese Menschen eventuell sind. Natürlich ist so etwas nicht gemeint. Der Völkerapostel wäre wohl der Allerletzte gewesen, der davon ausginge, dass Gott jemanden erschafft, den er dann a priori zugrunde gehen lässt. Das Entscheidende ist diese Verkettung der Handlungen Gottes. Die Christen, also jene, die sich zu Christus bekennen, die auf Christus getauft sind, gehören zusammen. Benedikt XVI. meint „Keiner lebt allein.“ „Keiner sündigt allein.“ „Unsere Leben interagieren miteinander.“ (Spe Salvi 48) Und Paulus hängt diese Kette jetzt direkt an Gott an (Vgl. Röm 14,7). Wir bilden nicht nur eine Gemeinschaft untereinander. Wir bilden auch eine Gemeinschaft mit Gott. Und das hat wiederum Auswirkungen auf den Einzelnen.
„Vorausbestimmt“ heißt „gottgewollt“. Nicht alles, was ich bin oder gar tue und unterlasse, ist gottgewollt. Aber mein Dasein ist es. Und das bedeutet: Niemand vegetiert allein. Existentielle Verlassenheit ist einer der größeren Abgründe unserer Zeit. Wir müssen nicht in die Ukraine oder nach Nahost fahren, um diesen Abgrund zu finden. Die Verzweifelten, die, die keine Perspektive mehr haben und deswegen ihr Dasein aufgeben – die finden wir vor unserer Haustür zu Genüge. So wie der reiche Mann im Bildwort Jesu, den armen Lazarus gefunden hätte, wenn er auch nur einmal hingeschaut hätte (Vgl. Lk 16,19-31). Die existentielle Einsamkeit entsteht im Leid und sie erfasst nach und nach den ganzen Menschen, der Leid erfahren hat. Die vieldiskutierte Euthanasie ist nur das letzte Siegel der existentiellen Vereinsamung. Es ist eine Vereinsamung, die unserem Paulus widerspricht: „Du bist nicht vorausbestimmt“, „du bist nicht gottgewollt“, „niemand mag oder sieht dich“.
„Hoffnung schenken bedeutet, Möglichkeiten zu suchen, dass ein Mensch im Abgrund Ja sagen lernt zu sich selbst.“
Ich habe das erlebt, wie es ist, mit einem Menschen, der nach der Erfahrung schwerer Gewalt mit sog. Flashbacks kämpft. Ich habe erlebt, wie es ist, mit einer Frau über den Münchner Marienplatz zu gehen, eben noch über Moden gesprochen zu haben und sie dann scheinbar grundlos – getriggert von einem Geruch – zu verlieren. Mitten im Gespräch wurden die Sätze weniger. Dann wurden ihre Sätze unverständlich. Die Augen matt und abwesend. Abseits der Menschenmassen sind wir im leeren Alten Hof auf einer Parkbank gesessen und ich konnte nur zugesehen. Übrig blieb ein Wimmern. Unerreichbar für mich. In sich gefangen im neu Durchleben des längst Vergangenen. Mir blieb nur übrig, ohnmächtig zu warten: 5 Minuten, 15 Minuten, 27 Minuten. Dann wurde die Frau wieder ansprechbar. Seither weiß ich, was Paulus meint mit dem unaussprechlichen Stöhnen. In solchen Momenten – so sagt die Frau – fehlt Dir jede Begründung dafür, dass Du existierst. Dass Du da bist. Einer solchen Frau, liebe Br. & Sr., kann man nicht einfach sagen, die Leiden der gegenwärtigen Zeit bedeuten nichts im Vergleich zur Herrlichkeit, die offenbar werden soll. Aber wenn wir Hoffnung geben wollen, dann sollten wir Wege suchen, solchen Menschen ein Licht zu schenken. Hoffnung ist das Ja-sagen zur eigenen Existenz. Und da haben wir jetzt, wenn wir so wollen, einen moralischen Imperativ aus unserer Römerbrief-Stelle, der uns Christen wirklich aufgetragen ist: Hoffnung schenken bedeutet, Möglichkeiten zu suchen, dass ein Mensch im Abgrund Ja sagen lernt zu sich selbst. Hoffnung schenken heißt, niemanden in der existentiellen Einsamkeit zurückzulassen und uns den Schrei der Gequälten zu eigen zu machen. Hoffnung schenken heißt zu bezeugen, dass es eine größere Gerechtigkeit gibt als Menschen selber zu leisten vermögen. Das alles rettet unter Umständen Leben. Es bedeutet, „Pilger der Hoffnung“ zu sein. Amen. (mtz)